Schtschedrin: Carmen Suite

Schtschedrin: Carmen Suite

Marita Ingenhoven
+49 (211) 91387553
Marita Ingenhoven

Ein Skandal! Zu viel nackte Haut, zudem unzüchtige Figuren und kaum Bekleidung. Als die langjährige Primaballerina des Moskauer Bolschoi-Theaters Maja Plissezkaja sich 1967 einen lebenslangen Traum erfüllte und die Carmen tanzte, ging ein Aufschrei durchs Land. Für die sozialistische Gesellschaft kam die Inszenierung beinahe einer sexuellen Revolution gleich. Auch die Musik, die ihr Mann, der Komponist Rodion Schtschedrin, auf Grundlage von Bizets Oper geschrieben hatte, erntete nach der Uraufführung zunächst miserable Kritik.

Nicht ohne Grund hatte Schtschedrin lange gezögert, Bizets legendäres Meisterwerk für das Ballett neu zu arrangieren. Zu groß war der Respekt. Selbst Schostakowitsch, den Plissezkaja zunächst um die Musik gebeten hatte, lehnte ab. »Die Idee ist hervorragend, aber ich habe Angst vor Bizet«, brachte er den Grund für seine Absage auf den Punkt. »Wenn das Publikum ins Ballett geht und keine Toréador-Arie hört, wird das Ganze den Bach runtergehen«, befürchtete er. Stattdessen schlug er vor, ihren Mann um die Musik zu bitten, schließlich sei der doch »ein sehr guter Komponist, der sich bestimmt etwas Gutes ausdenken werde«. Und dieser konnte seiner Frau ihren Herzenswunsch, »einmal die Carmen auf der Bühne zu verkörpern«, natürlich nicht verwehren, also stimmte er schließlich zu. »Nach langen Überlegungen entschied ich mich, statt gegen das übermächtige Vorbild zu kämpfen, es mir lieber zunutze zu machen: Mögen die Melodien zu erkennen sein, aber ihre klangliche Kleidung sollte anders werden«, lautete sein Plan. Gesagt, getan. In nur 20 Tagen schrieb er die Suite für Streicher und 47 Schlaginstrumente und machte aus der sprichwörtlichen Not eine beachtliche Tugend: »Ich habe die ursprünglichen Melodien in radikal veränderten Klangfarben dargeboten«, erläuterte er. Mit ebenso cleveren wie überraschenden rhythmischen Wendungen und subtilen Änderungen hatte er Bizets Musik neu eingekleidet. Der Effekt: Man hat den Eindruck, gleichzeitig etwas Vertrautes und etwas Fremdes zu erleben.

»Ihre Carmen wird sterben!«, donnerte die empörte sowjetische Kulturministerin nach der Premiere im Bolschoj-Theater. Plissezkaya hielt selbstbewusst dagegen: »Carmen stirbt, wenn ich sterbe!« Und sollte damit Recht behalten: Etwa 350 Mal tanzte sie die Carmen ihres Mannes. Das letzte Mal 1990 im Alter von sagenhaften 65 Jahren. Laut Statistik wird Shchedrins Carmen-Suite jeden Tag irgendwo auf der Welt entweder live gespielt oder im Radio gesendet. Damit ist sie sein mit Abstand bekanntestes Werk.

Rodion Schtschedrin – Carmen Suite