Alexej Gerassimez

Alexej Gerassimez

Der Schlagzeuger Alexej Gerassimez spielt als Artist in Residence der Saison 2023/24 sechs Konzerte in der Tonhalle. Er bringt dafür ein riesiges und wunderbar vielfältiges Instrumentarium mit – und einen künstlerischen Spirit, der vor Neugier glüht und nachdenklich in die Welt blickt. Ein Gespräch über gutes Timing, kosmische Rhythmen und, ja: den Sinn des Lebens.

Alexej, Schlagzeug ist ein ziemlich athletischer Sport. Bei einigen Auftritten legst du auf der Bühne viele Meter zurück, und zwar schnell, um rechtzeitig am nächsten Instrument zu sein. Musst du dich warm spielen?

Alexej Gerassimez: Das mit dem Tempo stimmt! Manchmal geht es um eine halbe Sekunde … Einspielen muss ich mich auf jeden Fall, heute sogar länger als früher. In meinem Alltag mit zwei kleinen Kindern komme ich kaum dazu, regelmäßig Sport zu machen. Aber ich mache fast jeden Tag Yoga, und unterwegs hab’ ich eine Matte für Work-outs dabei und gehe laufen, wenn ich kann. Das Spielen an sich hält mich natürlich auch fit, aber ich brauche einen Ausgleich, schon wegen der tendenziell immer nach vorne und unten gerichteten Spielhaltung.

Eine Gefahr der Überbelastung bestimmter Gelenke oder Muskeln musst du doch weniger fürchten als die Musiker, die ihr Instrument auch noch halten müssen.

Ja, Schlagzeug ist – außer dem Theremin vielleicht – das einzige berührungsfreie Instrument, das ich kenne. Und ich stehe frei im Raum. Dafür kommt wiederum das Tragen von Instrumenten dazu. Das dauert, selbst mit meiner Crew, locker zwei bis drei Stunden, um alles auszuladen und aufzubauen.Das habe ich als Jugendlicher noch komplett alleine gemacht.

Wie ist deine Liebe zum Schlagzeug entstanden? Es gibt diese schöne Geschichte mit den Ampeln: Auf deinem Schulweg musstest du über eine große Kreuzung. Das rhythmisch gegeneinander verschobene Klacken der Ampeln hat dich so fasziniert, dass du zur Verwunderung deiner Klassenkameraden länger als nötig stehen geblieben bist … Aber das wird ja nicht alles gewesen sein. Deine Eltern haben dir das nicht vorgelebt.

Nein, gar nicht. Mein Vater war strikt dagegen. Meine früheste Erinnerung ist ein Konzert im Essener Saalbau mit Strawinskys »Sacre«, da war ich vier oder fünf. Ich mochte es immer, wenn es laut und energetisch wurde. Dazu kam die Handhabung der Instrumente, ich fand es spannend, dass der Aufbau immer anders war, denn du musst die Instrumente ja so hinstellen, dass du sie gut spielen kannst.

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Das heißt, du musst auch viel mit den Augen machen.

Das liegt bei einem berührungsfreien Instrument in der Natur der Sache! Ich bin zu 99 Prozent auf meine Augen angewiesen. Bei der Marimba zum Beispiel werden die Tasten nach oben hin immer kleiner, vergleichbar mit den Tonabständen auf dem Griffbrett der Geige. Das heißt, wenn ich unten eine Quinte greife, ist es oben eine Septe oderSexte. Das macht es wahnsinnig schwierig, du musst ständig mit den Augen dabei sein. Sobald ich einen halben Schritt zur Seite mache, ist der Bezugspunkt ein völlig anderer. Natürlich weiß ich, wie sich eine Quinte in der vorletzten Oktave anfühlt und wie ich ein C oder ein E treffen muss. Dann gucke ich nur noch peripher, aber ohne Augen geht nichts.

Wenn du zwischen den Instrumenten sprinten musst, gilt es, den gleichen Bezugspunkt sofort wiederzufinden. Das geht doch nur, wenn man das komplett im Gefühl hat …

Ein interessantes Thema, das man auch mal wissenschaftlich untersuchen könnte. Was leistet das periphere Sehen? Oft muss ich viele Tasten gleichzeitig treffen, die eigentlich viel zu weit auseinanderliegen. Ein Pianist hat ein ähnliches Problem, er kann aber haptisch immer noch die Tasten fühlen und theoretisch blind spielen, denn die Tasten sind immer gleich groß.

Man bräuchte Messis Gabe für den No-Look-Pass … Das ist ja peripheres Sehen.

Ja, die ganz tollen Fußballer scannen die ganze Zeit das ganze Feld und sehen die Bewegung. Spannend ist auch, wie sich die Verteidiger verhalten, die auf die Stürmer reagieren müssen. Ein Verteidiger von Liverpool sagt, dass er dem Stürmer oft nur in die Augen schaut und daraus abliest, was er als Nächstes macht. Das gleiche Phänomen gibt es auch in der Musik, etwa wenn man Einsätze geben muss. Im Orchester macht das größtenteils der Dirigent, aber wenn man als kleinere Gruppe spielt, gibt man oft selbst die Einsätze. Beim Schlagzeug ist das sehr schwierig. Ich habe neulich mit den Jussen-Brüdern ein Programm für zwei Klaviere und zwei Schlagzeuger gespielt, also im Prinzip für vier Schlaginstrumente. Wenn das funktionieren soll, muss man extrem gut zusammen sein, denn man kann sich nicht hinter Streichern und Bläsern verstecken und es gibt keinen Einschwingvorgang. Die meisten Schlagzeuger tendieren dann dazu, auf den Schlegel der anderen zu schauen, und denken, der Schlegel geht runter, und dann seh’ ich ja genau, wo er auftrifft. Dann wird es schon zusammenpassen.

Ist dann aber meistens zu spät, oder?

Ja, und möglicherweise hat der andere auch eine andere Amplitude als man selbst. Dann ist es meistens nicht ganz zusammen und der Klang ist auch noch anders. Die Lösung ist: Du musst den Vorgang aus den Augen ablesen. Das ist faszinierend, weil eigentlich gar nichts passiert, aber du siehst und spürst den Impuls.

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Dein Vater hat Trompete gespielt, deine Mutter Bratsche, ein Bruder Cello, der andere Klavier.

… und meine Schwester Geige ...

Hattest du bei der familiären Aufstellung nie Sehnsucht nach einem »echten« Melodieinstrument?

Doch, sehr. Die Familie meines Vaters ist christlich-orthodox. Nun sind wir in Essen geboren und aufgewachsen, die nächste orthodoxe Gemeinde war in Köln. Das hieß, jeden Sonntag, wenn alle anderen Kinder ausschlafen durften und später zum Fußballplatz gingen, sind wir morgens um sieben ins Auto gestiegen und nach Köln gefahren. Mein Vater war dort Chorleiter, und die Gesänge in den Liturgien vor allem an den Feiertagen waren wunderschön. Diese Ausflüge sind tief in meiner Kindheit verwurzelt. Deshalb ist auch dieses Projekt mit dem Chor, das wir in der Tonhalle planen, etwas sehr Persönliches. Ich merke, dass ich diesen Klang immer wieder suche.

Apropos Chor. Beim Singen ein absolutes Gehör zu haben, ist hilfreich. Gibt es auch so etwas wie ein absolutes Tempogefühl? Kannst du mir jetzt genau sagen, wie schnell Achtel in 130 sind?

Achtel 130? [Schnipst] Das könnte ungefähr stimmen. [Macht ein Metronom an und schnipst das richtige Tempo.] Sehr nah dran. Das ist so: Ich habe für jedes Tempo meine Referenzen, Stücke, die ungefähr in dem Tempo sind. Ich glaube aber, der entscheidende Skill der Schlagzeuger ist, Rhythmen so zu denken, wie du sie haben willst. Also wenn ich das so mache [schnipst], denken die meisten Menschen einfach gleichmäßig 1-2-3-4. Ich denke mir den Rhythmus aber zum Beispiel als punktierten Dreier.

Denkst du das oder fühlst du es?

Es ist eigentlich ein Fühlen. Es gibt auch bestimmte Stücke, bei denen zwar ein Metrum steht, ich dieses aber theoretisch auch anders denken kann.

Das finde ich hochinteressant. Es geht um Zeit, um den Abstand zwischen zwei Impulsen. Den kann man sehr genau messen, in Sekunden oder Millisekunden. Aber was du meinst, hat mit Messen gar nichts mehr zu tun.

Genau, da beginnt ja die Kunst. Es dreht sich um den Menschen und um seine Wahrnehmung. Und diese ist ja, wie wir wissen, absolut ambivalent. Jeder nimmt alles anders wahr. Auch Rhythmen.

Du kannst den Zauber bestimmter Rhythmen gar nicht begründen. Und ihr Wesen auch nicht erkennen. So ist wahrscheinlich die Struktur der für westeuropäische Ohren eher chaotischen Metrik indischer Ragas für indische Ohren sofort wahrnehmbar und klar. Wenn du das mit den genauso durchorganisierten Rhythmen der europäischen Avantgarde vergleichst, gibt es äußerlich gewisse Affinitäten, aber man empfindet es ganz anders. Warum?

Das hat etwas mit der Interpretation zu tun und mit der Emotion der Musik. In der westafrikanischen Trommelkultur etwa, wo die Djembe herkommt, eine der ältesten Trommeln der Welt, wird gar nichts aufgeschrieben. Das ist wie eine Sprache. Sie wird von Generation zu Generation weitergegeben. Es gibt natürlich Leute, die angefangen haben, es aufzuschreiben. Und dann ist aufgefallen, dass die meisten Sachen im 12/8-Takt stehen. Das ist wie Schrödingers Katze: In dem Moment, wo du es aufschreibst und nach Noten spielst, hätte es mit dem Gefühl, wie die das spielen, nichts mehr zu tun. Und das kann man theoretisch sogar messen! In dem Sinne, dass die die Achtel nie gerade spielen.Wenn du dich mit Schlagzeug etwas auskennst, dann weißt du, dass ein guter Schlagzeuger gerade spielen kann. Ein sehr guter Schlagzeuger aber spielt gewollt schief und krumm.

Alexej Gerassimez

Also kurz nach oder vor dem Schlag ...

Je nachdem, was du gerade möchtest. David Garibaldi zum Beispiel, der Drummer der Band »Tower of Power«, ist ein Künstler, was das angeht. Der spielt, wenn du das möchtest, permanent die Snare einen Hauch zu früh. Damit erzeugt er einen immensen Drive. Das Schwierige daran ist, dass du dann in der Band Musiker brauchst, die das aushalten und nicht schneller werden. Denn: Wenn du zu früh bist, ist diese Spannung weg. Das Gleiche gibt es auch im R’n’B, wo du denkst, dass die Musik wahnsinnig schwerfällig ist. Da fragst du dich: Wie entsteht dieses Gefühl? Die Musik wird ja nicht immer langsamer. Warum wirkt die langsam? Das hat was mit den Verhältnissen der Rhythmen zu tun. Das kannst du in unserem europäischen Notensystem gar nicht aufschreiben. Das ist wie Magie bei den Bands, die das genau hinkriegen. Und bei den afrikanischen Trommlern ist es genauso: Sie interpretieren die dritte Zählzeit immer unterschiedlich. Je nachdem, was sie spielen, wird zum Beispiel die mittlere Achtel ein wenig vor- oder nachgezogen. Das klingt ganz anders.

Wird dieses Wissen weitergetragen oder entsteht die Magie im Zusammenspiel einfach so durch wortlose Kommunikation?

Darüber kann man nicht reden. So ist es auch beim Unterrichten: Spielen ist tausendmal besser als Reden. Die tief verwurzelten Trommler in welchen Kulturen auch immer reden nicht, sondern spielen miteinander. Dabei lernt man am meisten.

Inwieweit ist sowas für dich auch für die komponierte und notierte Musik wichtig? Dieser Zauber müsste ja auch da wirken.

Absolut. Ich weiß ganz genau, wo ich einen Drive haben oder etwas »laid back« spielen möchte und wie ich eine Triole interpretiere. Wenn ich ein Stück, das ich nicht selbst geschrieben habe, richtig gut spielen möchte, muss es mein Stück werden. Ich muss es so spielen, als hätte ich es selbst komponiert.

Gibt es eigentlich Dinge, die gar nicht rhythmisch sind? In der Natur, eigentlich im ganzen Kosmos, folgen die meisten Prozesse bestimmten Folgen und Sequenzen. Die haben alle ein gewisses Timing.

Darüber denke ich ständig nach.

Ich finde das sehr spannend, diesbezüglich vom Mikrokosmos in den Makrokosmos zu schauen. Zu überlegen, ob es Analogien etwa zwischen dem Entstehen und Verglühen der Sterne und der Kommunikation kleiner Spinnentiere gibt, die sich über die Bewegung ihrer Beine in den Netzen verständigen.

Das ist ja ein ähnliches Thema wie das der subjektiven Zeitwahrnehmung. Schau dir eine Fliege an. Aus unserer Perspektive ist das eine Eintagsfliege. Die hat ein wahnsinnig schnelles Leben, das für unsere Wahrnehmung schnell vorbei ist. Dann stelle ich mir vor, ich wäre ein Berg. Dann ist meine zeitliche Wahrnehmung mehrere Millionen Jahre. Ganz andere Sachen wären für mich wichtig. Die kleinen Menschen wuseln da so rum, sind ganz kurz da und wieder weg. Aber ich würde mich ja auch bewegen. Ich bewege mich, ich werde größer. Dann zerbrösele ich vielleicht.

Für manche Berge ist es jetzt vielleicht schon richtig hektisch. Durch den Klimawandel schmilzt das in den Felsen gespeicherte Eis, dadurch verändert sich messbar die Höhe des Berges, und zwar in einer Geschwindigkeit, die es sehr lange nicht gegeben hat. Das ist genauso hektisch wie das Leben einer Stubenfliege.

Oder wie die Planetenbewegung. Die ist auchr ichtig schnell, die Expansionen der Galaxien vermischen sich. Und so entstehen wieder andere Zeitfenster. Bezogen auf Musik finde ich es immer wichtig zu sehen, dass bei unserem Tun immer die Natur die Referenz ist. Weil wir natürliche Wesen sind. Wenn du etwas interpretierst, musst du erst mal davon ausgehen, was natürlich ist. Natürlich ist zum Beispiel die Gravitation. Wenn ich einen Ball fallen lasse, wird der immer mehr von der Erde angezogen und tippt dann langsam aus. Das ist das natürlichste Accelerando, das es gibt. Das ist die Referenz. Und wenn ich Musik mache, werde ich das immer im Blick behalten. Das heißt nicht, dass ich es so interpretieren muss, aber ich muss wissen, dass ich von dort komme. Dann muss ich entscheiden: Spiele ich organisch oder breche ich damit und spiele sozusagen anorganisch?

Alexej Gerassimez

Du hast mal gesagt, dass wir möglicherweise eine Vorliebe für regelmäßige Rhythmen haben, weil wir annähernd symmetrisch gebaut sind …

Wir empfinden Symmetrie in der Regel als schön. Also etwa ein symmetrisches Gesicht.

Trägt die Regelmäßigkeit von Strukturen auch zum therapeutischen Effekt von Musik bei?

Ich könnte jetzt darüber Theorien aufstellen, warum Menschen in den Club gehen und sich wie bescheuert zu Rhythmen bewegen, die musikalisch gesehen komplett banal sind. Aber warum machen sie es?

Wegen des Gleichklangs, den alle haben. Schon das simple rhythmische Klatschen löst bereits etwas Euphorisierendes aus. Aber es könnte auch was Physiologisches sein, man möchte Symmetrien und Wiederholungen.

Es ist am Ende wahrscheinlich eine Mischung aus dem, was du gesagt hast. Vor allem glaube ich: Du suchst einfach Verbindungen. Ein Sinn des Lebens ist die Verbindung zu anderen Menschen. Erst meine Verbindung zu dir macht mich zum Menschen. Wenn ich der einzige Mensch auf dem Planeten wäre, wäre ich kein Mensch.

Und bei den Verbindungen sucht man den Gleichklang, das sagt ja schon die Redewendung von den gleich schlagenden Herzen. Man müsste mal messen, ob und wie sich der Blutdruck und der Herzschlag in einem Hörkollektiv angleichen. Ich kann mir vorstellen, dass dabei das Rhythmische noch entscheidender ist als das Melodische. Am Anfang war der Herzschlag.

Für mich ist Musik ein Spektrum. An einem Ende hast du den Rhythmus und am anderem den Gesang, die menschliche Stimme. Beides ist das Ursprünglichste. Und alle Musikinstrumente liegen irgendwo dazwischen. Ich glaube, dass beide Pole extreme Macht haben, Menschen in Verbindung zu bringen. Musik ist für eine Gesellschaft überlebenswichtig, sie hält langfristig gesund. Wir können Meinungsverschiedenheiten mit Musik überbrücken. Genau deswegen bin ich Musiker, weil ich weiß, dass in meinem Konzert ein AfD-Wähler neben einem Linken sitzt, ohne dass sie voneinander wissen. Und beide freuen sich. Genau das müssen wir immer wieder versuchen: diese Verbindung herzustellen. Und da kann das Schlagzeug seine besonderen Stärken ausspielen, weil es in so unterschiedlichen Kulturen, Genres und Stilen präsent ist. In jeder Musik hast du mindestens ein Schlagzeug oder eine Stimme.

Fühlst du dich in den in unseren Sphären üblichen Stilen überall gleichermaßen zu Hause?

Meine Begeisterung und meine Leidenschaft verzweigen sich in fast alle Bereiche. Auf meinen Playlists gibt es stilistisch kaum Grenzen. Für mein aktives musikalisches Schaffen ist die Sache komplizierter. Schlagzeug ist ein sehr lernintensives Instrument, weil es so viele verschiedene Instrumente und Stile gibt. Um jedes Instrument und jeden Stil beherrschen zu wollen, müsste ich wahrscheinlich zehn Leben leben.

Du mit deinem Forscher- und Erfindergeist: Bist du nicht ständig im Job?

Schon irgendwie. Ich nehme Rhythmen sofort wahr. Wenn die zum Beispiel auf einer Baustelle anfangen, Nägel reinzuhauen …

Hier ist zwar keine Baustelle, aber es sprechen Menschen. Wie nimmst du das wahr?

Eher passiv, aber ich nehme es schon wahr. Mir ist neulich zum Beispiel aufgefallen, dass das Hintergrundgemurmel am Flughafen in Melbourne eine andere Färbung hat als am Frankfurter Flughafen. Wahrscheinlich, weil sie dort überwiegend Englisch sprechen, während es in Frankfurt sehr international ist. Entscheidend ist die Frage der Fokussierung. Im Konzert muss ich wissen, wohin ich meinen Fokus lenke und dafür einen groben Fahrplan haben – und gleichzeitig muss ich im Hier und Jetzt sein: Ich trenne zwischen dem denkenden Ich und dem inneren Ich. Das denkende Ich ist das, das in der Zukunft und in der Vergangenheit ist und das ich mit meinen Gedanken befeuere. Aber natürlich möchte man in den sogenannten Flow, den du in einem guten Konzert als Zuhörer und Spieler hast. In dem Moment denkst du ja nicht.

Alexej Gerassimez

Manchmal ist es unerklärlich, warum ein Flow entsteht und warum nicht.

Das hat für mich sehr viel mit Verletzlichkeit zu tun. In dem Moment, in dem du das Risiko in Kauf nimmst, komplett gegen die Wand zu fahren. Dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass du in den Flow kommst, viel größer. Aber dafür musst du dich öffnen.

Hast du unter den vielen Schlaginstrumenten einen Liebling?

Das wechselt eigentlich immer. Ich mag die kleine Trommel, weil sie so banal ist. Ich mag es, aus Banalität Kunst zu schöpfen. Das ist wie der zweite Blick. Man tendiert ja dazu, jemanden, den man zum ersten Mal sieht, gleich in eine Schublade zu stecken. Man hat seine Erfahrung und denkt, man hat die Welt verstanden. Das ist etwas, das ich bei kleinen Kindern bewundere: Die nehmen die Welt vorurteilsfrei und ungefiltert wahr. Ich versuche, das für mich zu kultivieren. Für den klassischen Schlagzeuger ist die kleine Trommel das zentrale Instrument, er übt da auch seine Technik drauf. Auch wenn es nur rechts, links, rechts, links ist. Aber grundsätzlich mag ich die Vielfalt an meinem Instrument. Also sagen wir so: Mein Lieblingsinstrument ist die Vielfalt.

Lass uns noch kurz über deine Konzerte bei uns sprechen. Am Anfang stehen die »Five Elements« mit deinem Bruder und drei anderen Schlagzeugern in einem Kammerkonzert. Was spielt ihr da?

Simeon ten Holts »Canto Ostinato« ist mittlerweile legendär. Hier geht es um das ganze Spektrum von Interpretation und Improvisation, der »Canto« liegt da etwa in der Mitte. Es gibt ein klares Gerüst und eine sehr freie Struktur darunter. Mein eigenes Stück, das ich genau für diese Konzertidee geschrieben habe, bezieht sich auf die fünf Materialien, denen man die Instrumente des Schlagzeugs zuordnen kann: Holz, Metall, Fell, Wasser und Stein. Da komme ich mit einem großen Schlagzeugapparat, bei Holz etwa haben wir einen ganzen Tisch voller Holzbalken …

Ein toller Auftakt für die Residence. Wie ein »perkussives Selbstporträt«.

Ja, das ist dicht an dem, was mir wichtig ist.

Dann kommt das Symphoniekonzert mit dem Schlagzeugkonzert »The Shaman« von Vincent Ho. Hast du das schon mal gespielt?

Nein, noch nie. Ich bin sehr gespannt, vor allem, was das Zusammenspiel mit dem Orchester betrifft. Viele Komponisten lassen das eher nebeneinander herlaufen, aber ich mag viel Kommunikation mit dem Orchester. Evelyn Glennie hat das Stück uraufgeführt, mein großes Vorbild. Schon als ich mit sechs oder sieben mit dem Schlagzeug angefangen habe, war sie eine Inspiration und ein wichtiger Grund, warum ich überhaupt Schlagzeug spiele.

Hast du zu deinen Lehrern noch Kontakt?

Mein wichtigster Lehrer, Peter Sadlo, ist 2016 unerwartet gestorben. Das war ein einschneidendes Erlebnis, weil ich zum ersten Mal konkret mit dem Tod konfrontiert war. Er war für mich auch eine Vaterfigur. Ich habe jetzt seine Stelle in München übernommen. Viele fragen: »Machst du dir jetzt keinen Druck, weil er einer der bekanntesten Lehrer für Schlagzeug war?« Aber für mich persönlich ist das gar kein Druck, weil ich mit Menschen ganz anders umgehe als er. Man muss sich auch selbst treu sein. Im Nachhinein hat mich das sehr erwachsen gemacht, denn das Thema »Verantwortung übernehmen« war für meine Entwicklung sehr wichtig. Unbewusst wollte ich das immer. Deshalb bin ich auch mit 17 von zu Hause ausgezogen, hab’ in Berlin mein Abitur gemacht und kurz studiert. Dann ging es schon nach München. Ich bin also früh raus, was das Beste für mich war.

Uwe Sommer-Sorgente, Alexej Gerassimez, Michael Becker

Was fasziniert dich an John Coriglianos »Conjurer« (»Zauberer«), den du im Juni spielst?

Corigliano hat ein ähnliches Konzept wie ich in den »Five Elements«. Er hat die drei Sätze auch Holz, Metall und Fell benannt. Also die Essenz, die ich noch um Wasser und Stein erweitert habe. Es hat ein bisschen was mit Zauberei zu tun: Ich erweitere die Wahrnehmung meines Gegenübers. Unsere Wahrnehmung ist prinzipiell beschränkt, und mein Job ist es, sie zu erweitern – indem ich Dinge tue, die bisher außerhalb des Vorstellungsvermögens der Zuhörer lagen.

Es bleibt aber unsicher, ob das funktioniert. Du weißt ja nichts über die Vorstellungskraft und die Wahrnehmung des Publikums …

Genau. Das ist eine arrogante Einstellung. Wenn ich ein Stück interpretiere, dann mache ich das natürlich auf meine Weise. Auf eine Art, von der ich weiß, dass ich nicht anders kann. Natürlich gibt es Elemente, die man anders sehen kann, und manches verändert sich im Gespräch mit Dirigenten oder mit Musikern, aber die Grundessenz bin ich. Und trotzdem zieh’ ich mich, was die Wirkung betrifft, aus der Verantwortung. Ich sage: »Friss oder lauf.« Ich glaube, das ist extrem wichtig in der Entwicklung als Musiker. In der Ausbildung bist du als junger Mensch lange in die Rolle des Beurteilten gezwängt. Das merke ich jetzt als Lehrer: Der Schüler spielt und wartet auf sein Urteil. Das ist eigentlich furchtbar. Gut und schlecht ist ja schon mal ganz schwierig, weil es ein Graubereich ist. Natürlich ist einer gerade im technischen Bereich vielleicht besser als ein anderer. Aber ab einem gewissen Punkt wird es immer schwieriger zu sagen, was gut und was schlecht ist.

Zum Schluss kommt noch ein Projekt mit einem weiteren Stück von dir, »Das Land« für Chor und Schlagzeug. Welche Rolle spielt das Komponieren in deinem Leben?

Ich habe das Komponieren nicht gelernt. Komposition hat bei mir viel zu tun mit der Freiheit vom Instrument und der Freiheit von dem, was ich sagen möchte. Es hängt viel mit der Improvisation zusammen. Wenn ich Stücke schreibe, habe ich oft für mich selber Parts drin, in denen ich improvisiere, und viele Stücke entstehen auch aus der Improvisation heraus. Faszinierend ist für mich, etwas von mir Komponiertes selbst zu hören, und zwar deshalb, weil Musik sich im Kontext des Aufschreibens manifestiert. Das ist das, was ich als Musiker nicht habe. Ich gehe morgens in meinen Probenraum, dann hau ich ein paar Stunden auf meine Sachen ein und dann gehe ich wieder raus. Es ist flüchtig, und ich habe nichts Physisches in der Hand. Und genau dieses Haptische habe ich in der Komposition. Das Schwierige in meiner jetzigen Lebensphase ist, dass Komponieren viel Zeit beansprucht, und die habe ich nicht. Sonst würde ich vielleicht viel mehr schreiben. Aber ich habe zu großen Respekt davor und möchte nicht einfach neben meiner Konzerttätigkeit und Professur im Vorbeigehen noch Symphonien schreiben. Das funktioniert nicht, jedenfalls nicht, wenn man auch noch Familie hat.

Das Interview führte Uwe Sommer-Sorgente für das Tonhallen-Saisonmagazin OTON 2023/2024.