Gibt es Musik, die wie Popcorn klingt? Der Petersburger Ballett-Impresario Sergej Diaghilew und der Komponist Alfredo Casella hatten offenbar genau diese Assoziation als Strawinsky ihnen 1925 seine Suite Nr. 2 für kleines Orchester in einem Mailänder Hotelzimmer präsentierte. »Ich erinnere mich, wie erstaunt die beiden Männer waren, dass der Komponist von ›Le Sacre du printemps‹ so ein Stück Popcorn produziert haben sollte«, berichtete Strawinsky seinem langjährigen Weggefährten Robert Craft, der diese Anekdote – wie so viele andere aus dem Leben des Jahrhundertgenies – für die Nachwelt festhielt.
Und tatsächlich beschreibt ›Popcorn-Musik‹ die Spritzigkeit und Überschwänglichkeit der Suite recht gut. Strawinsky fertigte das Medley aus Kindermelodien und Karikaturen für eine Pariser Music-Hall als Begleitmusik zu einem Sketch an. Die vier Sätze – Marsch, Polka, Walzer und Galopp – vereinen augenzwinkernde Satire, die Verbeugung vor einem großen Kollegen sowie nostalgische Erinnerungen an die russische Heimat des Komponisten: »Ich habe die Polka zuerst geschrieben, als Karikatur des Ballett-Impresarios Sergej Diaghilew, den ich als einen Zirkusdompteur sah, der mit einer langen Peitsche knallt«, verriet Strawinsky. Den Marsch widmete er Casella, den ›Eiswagen‹-Walzer à la Drehleier schrieb er als Hommage an Erik Satie, und im Galopp greift er schließlich traditionelle Melodien aus seiner Heimat auf.
Die Suite läutete mit ihrem Raffinement und französisch angehauchtem Charme Strawinskys neoklassische Phase ein. Deren Markenzeichen – schlanke Instrumentation, rhythmischer Drive und perfektes Timing – sind hier allgegenwärtig. Als Basis dienten Strawinsky Miniaturen für Klavier zu vier Händen, die er 1914-16 für seine Kinder Theodore und Mika komponiert hatte. Dabei war der einfachere Part der rechten Hand für die Kinder gedacht, der komplexere Part der linken für ihn, den Vater. In der Suite kommt zum Klavier ein Kammerorchester hinzu, dessen Instrumente Strawinsky ebenso liebe- wie humorvoll in Szene setzt. Das Augenzwinkern will gar nicht aufhören. Strawinsky war eben nicht nur ein musikalisches Chamäleon, sondern auch – und besonders – ein Spieler.
Igor Strawinsky – Suite Nr. 2 für kleines Orchester