Adam_Orfeo_II

Kein Sushi mit Ketchup, bitte! 

Die Tonhalle bringt Haydns Oper „Orfeo ed Euridice“ auf die Bühne des Mendelsohn-Saals. Unser Principal Conductor Adam Fischer, ein ausgewiesener Haydn-Experte, schreibt über die Herausforderung einer solchen Aufführung.

Halbszenische Aufführung von Haydns Oper

Dirigent Adam Fischer plädiert für eine neue Aufführungspraxis der Opera seria. 

Eine Oper ist immer ein Hybrid. Das gilt im Besonderen für die Opera seria des 17. und 18. Jahrhunderts, also die klassische, „ernste” italienische Oper – wie Vivaldis „Orlando furioso“, Mozarts „Lucio Silla“ und „La clemenza di Tito“ oder auch die Opern Händels. Die Opera seria ist kein Theater und kein Konzert, sie ist beides zugleich. Es gibt Passagen, in denen die Handlung auf der Bühne vorangetrieben wird und solche, in denen die Handlung stehen bleibt. Das gilt für jede Oper, aber eben vor allem für die Opera seria, weil sie – abgesehen von den Finali – fast nur aus Arien und Rezitativen besteht. Es gibt ein Recitativo, in dem die Geschichte erzählt wird, dann folgt eine Arie – ein stetiges Wechselspiel.  

Weil die Opera seria ein Zwitterwesen ist, glaube ich, dass ihr die gängige Aufführungspraxis als Theaterstück nicht gerecht wird. Zwar wird es ihr ebenso wenig gerecht, sie als reines Konzert aufzuführen, aber diese Art der Aufführung kommt dem Wesen der Werke meiner Ansicht nach deutlich näher als das Theater. 

Schon im 17. und 18. Jahrhundert wollte ein Teil des Publikums Theater sehen und der andere Teil ein Konzert hören. Das beweist unter anderem die Tatsache, dass Mozart in Italien für seine ersten Opere serie ganz genau vorgeschrieben wurde, wie lang die Arien zu sein hätten. Nämlich zwischen 6 und 6 ½ Minuten. Warum diese zeitliche Festlegung? Die jungen Aristokraten waren damals an der Musik nicht übermäßig interessiert, lieber trafen sie sich hinter den Logen mit den Ballettmädchen – für kurze, eben maximal sechseinhalbminütige Schäferstündchen. Aber für die jungen Männer war es auch wichtig, rechtzeitig wieder zurück auf ihren Plätzen zu sein, um nicht zu verpassen, wie die Geschichte weitergeht. Andererseits gab es auch viele Zuschauer, für die die Handlung eher Nebensache war. Die Stoffe von Orfeo, Armida oder Orlando beispielsweise waren hinlänglich bekannt, die damaligen Opern vertonten oft dieselben mythologischen Themen. Daher waren es wiederum die Arien, die die Konzertliebhaber interessierten. Dieser Teil des Publikums ging wegen der Musik ins Theater.

Die unterschiedlichen Interessen des Publikums waren bekannt und akzeptiert. Es war früher normal, dass die Menschen in der Oper während der Aufführung hinausgingen und wieder hereinkamen, ein ständiges Kommen und Gehen. Heute aber ist das undenkbar, und so müssen sich die Konzertliebhaber viele Rezitative anhören und die Theaterliebhaber Arien über sich ergehen lassen.  

Wenn eine Arie erklingt, bleibt die Handlung stehen. Im Film würde man dieses Stilmittel als „Freeze“ bezeichnen – ein Einzelbild friert ein und erzeugt einen Effekt, als würde der Film angehalten. Auch in der Oper gibt es diese Freeze-Effekte, und in diesem Augenblick wird die Veranstaltung zu einem Konzert. 

Ein wunderbares Beispiel für einen „Freeze-Effekt“ ist eine Szene in Verdis „Il trovatore“. Manrico erhält die Nachricht, dass seine Mutter gefangengenommen wurde und auf dem Scheiterhaufen hingerichtet werden soll. Es ist eine Szene von größter Dramatik: „Deine Mutter stirbt, Du musst sofort kommen!“ Manrico ist außer sich, will fort, um seine Mutter zu retten – und bleibt stehen, um eine Arie zu singen. Und erst nachdem er den letzten Ton gesungen hat, stürzt er los … 

Eigentlich müsste man lachen über diese fast schon ironische Szenerie. Sie ist natürlich nur möglich, weil während der Arie die Zeit stehen bleibt. Als Kind habe ich einmal einen Opernfilm gesehen, in dem diese Szene folgendermaßen dargestellt wurde: Manrico rennt raus, springt auf ein Pferd und galoppiert weg, um seine Mutter zu retten. Und singt die Arie auf dem Pferd. 

Ganz unabhängig davon, dass man hoch zu Ross nicht das hohe C herausbringen kann – mich stört vor allem, dass viele Regisseure überhaupt nicht verstehen, was es bedeutet, einen Augenblick zu zeigen. Das ist für mich ein sehr wichtiger, ein zentraler Gedanke: Denn es geht hier um etwas Wesentliches für die Kunstgattung der Oper überhaupt. Es geht in einer Opernaufführung darum, wie beweglich ein Augenblick sein kann. Das Publikum kann einen Seelenzustand betrachten, ohne von der Handlung etwas zu verpassen.

Wie das meisterlich gelingt, kann man bei Michelangelo sehen. Seine berühmten Statuen von David und Moses zeigen die Figuren mitten in Aktion. Moses ist festgehalten in dem Augenblick, in dem er das Goldene Kalb erblickt hat und jeden Moment wütend aufspringen wird, um die Gesetzestafeln auf dem Boden zu zerschmettern. David wird wiederum in dem Augenblick gezeigt, kurz bevor er mit seiner Steinschleuder den Kampf gegen Goliath aufnehmen wird.  

Diese beiden Augenblicke hat Michelangelo in Marmor verewigt, aber man sieht dennoch die Beweglichkeit der Situation. Die geschwollenen Adern, die grimmig gerunzelte Stirn – das ist in Stein gemeißelte Beweglichkeit. 

Wir müssen eine Form finden, diese in Stein gemeißelte Beweglichkeit auch in der Oper zu zeigen. Wir müssen deutlich machen, dass während der Arien die Zeit stehen bleibt und die Veranstaltung zum Konzert wird. Sonst wird die Oper zerstört.

Ich hatte in der Vergangenheit schon viele Gespräche und Diskussionen mit Opern-Regisseuren zu diesem Thema. Wenige Regisseure trauen sich, während der Arien einzig und allein die Musik sprechen zu lassen. Durch Kommentare oder Extra-Zutaten stellen viele immer wieder etwas auf die Bühne, das die Aufmerksamkeit von der Musik weglenkt. Sie sind davon überzeugt, dass das Publikum eine derartige Aufführungspraxis nicht verstehen würde. Wenn fünf oder sechs Minuten lang die Handlung nicht weitergeht, werden die Zuschauer unruhig, sagen sie. Das Publikum erwarte auf der Bühne Aktionen. Aber Menschen, die durch das Fernsehen oder Social Media auf ständige Action sozialisiert sind, sollen diese Action lieber nicht in der Oper suchen. 

Aktionen einzubauen, kann ich ganz persönlich nur schwer ertragen. Durch ständige Aktionen mehr Zuschauer für die Oper gewinnen zu wollen, ist Verrat. Das erinnert mich an ein kulinarisches Erlebnis während einer USA-Reise. Ich habe ein japanisches Restaurant besucht, ein wirklich qualitativ hochwertiges Restaurant, aber dort boten sie zu Sushi Ketchup an. Warum Ketchup? Weil das Publikum in Amerika gewohnt ist, in einem Restaurant eine Flasche Ketchup auf dem Tisch stehen zu haben. Der Gastronom kann mehr verkaufen, wenn er das Sushi mit Ketchup serviert als ohne. Und genauso sind für mich Opernregisseure, wenn sie diese Eigenheit der Arie als Konzertstück innerhalb des Abends nicht zeigen. Wie heute die Opera seria meistens inszeniert wird, das ist für mich Sushi mit Ketchup. Ich will aber kein Sushi mit Ketchup!

Wir sollten uns auf die Suche nach etwas Neuem begeben. Wir müssen die Form finden, die den Werken am besten entspricht. Ich sage nicht, dass die Lösung ist, die Opera seria ausschließlich nur noch im Konzertsaal aufzuführen, denn darunter würde die Theatralik leiden. Aber dennoch glaube ich, dass man diese Stücke eher im Konzertsaal zeigen kann als auf der Opernbühne, auch weil die Erwartungshaltung des Publikums im Konzertsaal eine andere ist. Wenn es so ist, wie manche Regisseure sagen, dass das Publikum Aktionen auf der Bühne erwartet, dann ist deren Fehlen auf der Konzertbühne einfacher zu verstehen. 

Mir ist bewusst, dass dies ein einseitiger Blick auf das komplexe Zusammenspiel von Musik, Text, Regie und Bühne ist, das zum Wesen der Oper gehört. Es sind die subjektiven Empfindungen eines Musikers, für den das Ohr immer an erster Stelle steht. 

Unser „Orfeo“ in Düsseldorf wird ein Versuch, der gängigen Aufführungspraxis eine neue Perspektive aufzuzeigen. Unsere Produktion wird nicht komplett pur sein, auch wir planen beispielsweise Lichtwechsel und verschiedene theatralische Mittel ein. Ich behaupte nicht, dass unser „Orfeo“ in der Tonhalle die Antwort ist. Ob diese Fassung überzeugt, kann allein das Publikum entscheiden. 

In jedem Fall aber glaube ich, dass wir mit unserer Aufführung versuchen sollten, die in Stein gemeißelte Beweglichkeit so zu zeigen, wie sie gezeigt werden soll: als Konzert. 

Adam Fischer (Mai 2022)