Mussorgsky: Bilder einer Ausstellung

Mussorgsky: Bilder einer Ausstellung

Marita Ingenhoven
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Marita Ingenhoven

»Die Klänge und Gedanken fliegen mir wie gebratene Tauben zu. Ich schlucke und schlucke und überesse mich geradezu daran. Es gelingt mir kaum, alles mit der erforderlichen Schnelligkeit zu Papier zu bringen«, so beschreibt Modest Mussorgsky den Schaffensrausch, in den er 1874 durch den Besuch einer Ausstellung in der Petersburger Akademie der Künste geriet. Die Schau zeigte Werke des Malers Viktor Hartmann, der etwa ein halbes Jahr zuvor mit nur 39 Jahren verstorben war und mit dem sich Mussorgsky in einer Art Seelenverwandtschaft verbunden fühlte. Tief bewegt von den Eindrücken während der posthumen Ausstellung beschließt er, zehn der Arbeiten seines Freundes zu vertonen. Innerhalb kürzester Zeit schreibt er sein bekanntestes Oeuvre: den Klavierzyklus »Bilder einer Ausstellung«. Millionen von Schülern dient es bis heute im Musikunterricht als Paradebeispiel für Programmmusik – einem Werk also, das ein außermusikalisches Sujet klanglich abbildet.

Die dem programmatischen Konzept zugrundeliegende Idee ist ebenso einfach wie genial: Mussorgsky installiert in seinem Zyklus einen Betrachter, der durch die Schau (seine Komposition) spaziert und die einzelnen Bilder (die Sätze) eingehend studiert, interpretiert und weiterdenkt – alles in Tönen. Um die einzelnen »Bildbetrachtungen« musikalisch miteinander zu verbinden, hat Mussorgsky eine »Promenade« komponiert, die sich wie ein roter Faden durch den gesamten Zyklus webt. Sie variiert je nach Fortgang des Ausstellungsrundgangs: immer das vorherige und/oder aufkommende Bild aufgreifend bzw. spiegelnd. Vor der Betrachtung der letzten beiden Bilder hat der Komponist eine Variation der Promenade mit dem Titel »Cum mortuis in lingua mortua« eingeschoben, was übersetzt »Mit den Toten in der Sprache der Toten« bedeutet. Im Autograph findet sich dazu die Notiz des Komponisten: »Der schöpferische Geist des verstorbenen Hartmann führt mich zu den Schädeln und ruft sie an; die Schädel leuchten sanft auf.« Mussorgsky tritt hier offenbar in einen Dialog mit seinem verstorbenen Freund. Es erklingt eine düstere Moll-Variante des Promenadenthemas, die sich dann aber aufklärt und am Ende ein zart schimmerndes Dur hervorbringt. Möchte man eine Deutung wagen, könnte man hier Mussorgsky als Trauernden sehen, der gelernt hat mit dem tragischen Verlust seines Freundes umzugehen und seinen Blick himmelwärts richtet.

Zu Mussorgskys Lebzeiten allerdings werden die »Bilder einer Ausstellung« von Publikum und Kritik kaum wahrgenommen. Erst fünf Jahre nach seinem Tod im Jahre 1886 kommt das Werk endlich in den Druck; trotzdem bleibt es bis weit ins 20. Jahrhundert mehr oder weniger unentdeckt. 1922 schließlich arrangiert Maurice Ravel den Klavierzyklus für großes Symphonieorchester – der Startschuss für den längst überfälligen, bis heute andauernden Siegeszug der »Bilder einer Ausstellung«. Mittlerweile existieren unzählige, unterschiedlichste Genres umfassende Bearbeitungen der Urversion – von Ravels berühmter Orchestration bis zur Rockversion von »Emerson, Lake & Palmer«. Eine Fassung stammt von Tubist Walter Hilgers und stellt die Blechbläser zusammen mit den Harfen und Perkussionisten in den Fokus des Zyklus‘ – diese Fassung haben sich die Düsseldorfer Symphoniker für den Livestream ausgewählt.

Modest Mussorgsky: »Bilder einer Ausstellung« für großes Brass Ensemble, Pauken, Percussion und zwei Harfen (Arrangement von Walter Hilgers)
Länge: ca. 30 min

Foto: Modest Mussorgsky. Gemälde von Ilya Yefimovich Repin. 1881 (c) Wikimedia Commons