Atonalität und Zwölftontechnik – so lauten die Schlagworte, mit denen Arnold Schönberg in der Regel assoziiert wird. Wie kein anderer Komponist des 20. Jahrhunderts revolutionierte er die Musikgeschichte, indem er den Ton aus der Bindung an das Dur-Moll-System befreite, alle zwölf Töne als gleichwertig definierte und maßgeblich zur »Emanzipation der Dissonanz« beitrug. In seinem Frühwerk war der Schüler Alexander Zemlinskys hingegen noch ganz in der tonalen Musik verwurzelt. Als Destillation dieser ersten Schaffensphase gilt sein Streichsextett »Verklärte Nacht«, das er später für Streichorchester arrangierte. Das in der Grundtonart d-Moll stehende spätromantische Opus 4 ist sein erstes größeres Oeuvre und zählt zu seinen meistgespielten Werken.
Inhaltlich ging es Schönberg stets darum, die menschliche Psyche in all ihren Facetten in Musik zu setzen. Das Gedicht »Verklärte Nacht« von Richard Dehmel (s.u.), das ihn zu seiner Komposition inspirierte, lieferte ihm eine ideale Vorlage. Es handelt von einem frisch verliebten Paar, das nachts durch einen unwirtlichen Wald spaziert. Die Frau ist geplagt von Selbstvorwürfen und gesteht, dass sie von einem anderen Mann schwanger ist, den sie aber nie geliebt hat. Der Mann beruhigt sie, sagt, dass sie sich nicht grämen soll und verspricht, das Kind als sein eigenes zu betrachten. Sie umarmen sich und die Stimmung der gesamten Szenerie verändert sich schlagartig: Natur und Nacht wirken nicht mehr düster und bedrückend, sondern erscheinen nun durch die Liebe der beiden buchstäblich »verklärt«.
Schönberg schrieb das Werk, als er selbst gerade frisch verliebt war. Er hatte den Sommer 1899 mit seinem Freund und Lehrer Zemlinsky verbracht und entflammte während dieser Zeit für seine spätere Frau Mathilde – die jüngere Schwester Alexanders. Derart beflügelt komponierte er »Verklärte Nacht« innerhalb von drei Wochen. Mit dem Werk erreichte der 25-Jährige nicht nur den Gipfelpunkt der Spätromantik, sondern stieß gleichzeitig die Tür zur Moderne auf, wirft es doch bereits seine Schatten auf Schönbergs kommende Innovationen voraus. »Verklärte Nacht« gilt zudem als erste programmatische Kammermusik. »Meine Komposition unterschied sich vielleicht etwas von anderen illustrativen Kompositionen erstens, indem sie nicht für Orchester, sondern für Kammerbesetzung ist und zweitens, weil sie nicht irgendeine Handlung oder ein Drama schildert, sondern sich darauf beschränkt, die Natur zu zeichnen und menschliche Gefühle auszudrücken«, kommentierte Schönberg selbst. »Es scheint, dass meine Komposition aufgrund dieser Haltung Qualitäten gewonnen hat, die auch befriedigen, wenn man nicht weiß, was sie schildert, oder, mit anderen Worten, sie bietet die Möglichkeit, als reine Musik geschätzt zu werden.«
Arnold Schönberg: »Verklärte Nacht« op. 4, Fassung für Streichorchester (1917)
Länge: ca. 30 min
Foto: Egon Schiele. Die Umarmung. 1917 (c) Wikimedia Commons
Verklärte Nacht
von Richard Dehmel (1863-1920)
Zwei Menschen gehn durch kahlen, kalten Hain;
der Mond läuft mit, sie schaun hinein.
Der Mond läuft über hohe Eichen,
kein Wölkchen trübt das Himmelslicht,
in das die schwarzen Zacken reichen.
Die Stimme eines Weibes spricht:
Ich trag ein Kind, und nit von dir,
ich geh in Sünde neben dir.
Ich hab mich schwer an mir vergangen;
ich glaubte nicht mehr an ein Glück
und hatte doch ein schwer Verlangen
nach Lebensfrucht, nach Mutterglück
und Pflicht - da hab ich mich erfrecht,
da ließ ich schaudernd mein Geschlecht
von einem fremden Mann umfangen
und hab mich noch dafür gesegnet.
Nun hat das Leben sich gerächt,
nun bin ich dir, o dir begegnet.
Sie geht mit ungelenkem Schritt,
sie schaut empor, der Mond läuft mit;
ihr dunkler Blick ertrinkt in Licht.
Die Stimme eines Mannes spricht:
Das Kind, das du empfangen hast,
sei deiner Seele keine Last,
o sieh, wie klar das Weltall schimmert!
Es ist ein Glanz um Alles her,
du treibst mit mir auf kaltem Meer,
doch eine eigne Wärme flimmert
von dir in mich, von mir in dich;
die wird das fremde Kind verklären,
du wirst es mir, von mir gebären,
du hast den Glanz in mich gebracht,
du hast mich selbst zum Kind gemacht.
Er fasst sie um die starken Hüften,
ihr Atem mischt sich in den Lüften,
zwei Menschen gehn durch hohe, helle Nacht.