Filmstill Windy City

Vom Sound der Stadt

In der Natur erlauschen wir seit je die zauberhaftesten Klänge. Wie aber klingen die Städte, welche Geschichten erzählt ihr Sound? – Drei Komponisten haben neue Werke über urbane Erfahrungen und Visionen geschrieben. In zwei von ihnen gehen Musik und Film Hand in Hand. In der Supernova am 1. Oktober werden sie uraufgeführt.

Hauke Berheides „Windy City“ ist eine Liebeserklärung. Keine Hymne, keine verehrende Feier. Eher ein leidenschaftliches Porträt einer Stadt in Kenntnis auch der Untiefen, die ihrem Zauber innewohnen. Berheide hat lange in Chicago gelebt, dort gearbeitet und die Regisseurin Amy Stebbins kennengelernt, seine jetzige Lebensgefährtin. Zusammen haben sie „Windy City – Silent Movie and Loud Music“ entwickelt: Ein 18-minütiges Werk für Kammerorchester, Geräuschinstrumente und Stummfilmprojektion. Der Film fängt Chicago als Stadt voller Extremzustände ein. Da ist allein schon das Klima: Mal knochentrocken, mal sumpfig brütend, bitterkalt und stechend heiß, im Durchzug zwischen Lake Michigan und den Great Plains immer auf der Hut vor Tornados. Das Wetter wechselt in hoher Frequenz, und der permanente Kampf mit den Elementen scheint sich im sozialen Klima der Metropole zu spiegeln. Große Freundlich- und Herzlichkeit auf der einen, beängstigende Mordraten besonders bei Hitze auf der anderen Seite. Dies alles steckt in den Menschen und will raus: Kein Wunder, dass die Künste in dieser Stadt seit je einen starken Nährboden finden. Ziemlich genau 100 Jahre ist es her, dass Louis Armstrong hier sein erstes Solo auf dem Cornet blies …

Die Stadt, wie Amy Stebbins und Hauke Berheide sie erlebt haben, gibt Form und Rhythmus der Bilder und der Musik vor. Filmschnitt und Komposition im permanenten Austausch: mal ist der eine impulsgebend, mal der andere. „Windy City“ ist ein Porträt, aber auch eine Vision: Wie wird ein solch lebensgesättigter Ort nach der Zivilisation aussehen? Wird sie zum „Waste Land“?

Hochhaus in Chicago

Wie für Hauke Berheide war auch für Ulrich Kreppein Düsseldorf der Ausgangspunkt einer erfolgreichen internationalen Karriere. Sein neues Stück „Reigen“ trägt den Untertitel „Urbane Klangräume Nr. 2“, und der ist sehr wörtlich zu nehmen: Für die Komposition hat Ulrich Kreppein in verschiedenen Städten akustische Momentaufnahmen gemacht – wie ein durch die Stadt flanierender Tourist, der statt einer Kamera ein Mikrofon auf Dinge und Szenen richtet, die er als einzig- oder eigenartig, bewegend oder verstörend empfindet. Entstanden ist ein Sound-Archiv, in dem reale Klänge, aber auch die Empfindungen gespeichert sind, die den „akustischen Fotografen“ dazu gebracht haben, das Mikrofon zu öffnen. Einige Klänge werden in diesem „Reigen“ direkt eingespielt, Ulrich Kreppein hat sie aber auch analysiert und strukturell in seine Komposition einfließen lassen. „Reigen“ ist weniger ein akustischer Reiseführer als ein persönliches Tagebuch in Klängen. Vielleicht auch eine Zustandsbeschreibung gegenwärtiger Lebensräume, als die man Alban Bergs gleichnamigen Satz aus seinen legendären drei Orchesterstücken op. 6 sicher hören kann …

stadtbild_combier

Für „Nowhere Cities“ war Jérôme Combier für Tonaufnahmen in sieben europäischen Städten unterwegs: Paris, London, Venedig, Lissabon, Kopenhagen, Amsterdam und Berlin. In jeder von ihnen wird eine andere Sprache gesprochen, die ihr Klima, ihr Charisma bestimmt. Aber alle haben eines gemeinsam: „Jede Stadt ist eine ebenso verführerische wie schreckliche Falle“ (Combier).

Das Erleben dieser sieben Städte hat Combier zu seinem neuen Stück inspiriert, in dem er fünf imaginäre Städte porträtiert. Sie tragen rekonstruierte Namen: COSTERDON, PALIN, AMPERIS, NIVEN, BERHAGEN. Combier: „Jede dieser Nirgendwo-Städte ist ein klangliches und formales, architektonisches Projekt. Jede Stadt schlägt ihr eigenes Material, ihre eigene Architektur vor, jede Stadt ist eine Klangreise, die ein besonderer Raum in sich selbst ist. Hier ist es die Monstrosität der Städte, die uns herausfordert, und das Gefühl, dass sie unser Lebensraum und unsere Gefängnisse sind. Es ist erstaunlich, dass, wenn wir unsere Städte mit einer gewissen Distanz betrachten, sie alle faszinierend erscheinen. Egal ob schön oder hässlich, aber immer fesselnd in ihrer Organisation und in den Geometrien, die sie zeichnen. Von diesem globalen Standpunkt aus betrachtet scheinen sie mehr oder weniger gleich zu sein. Wenn wir uns jedoch physisch in ihnen verlieren, wenn wir uns in ihre Ecken wagen, offenbaren unsere Städte eine völlig andere Realität: banal und hart, traurig und abstoßend zugleich. Es ist die ewige Debatte zwischen dem Ganzen und dem Detail, zwischen der Idee und der Empirie, zwischen den Dingen der Kunst und der Trivialität der Dinge, die uns umgeben. Wo stehen wir?

(19. September 2022) 

Komponist Jérôme Combier

Bildnachweise: Marie Laforge; Jean Nouvel; Agathe Poupeney 

Windy City