Was haben Sergej Rachmaninow und Erich Wolfgang Korngold gemeinsam? Auf diese Frage zu antworten, dürfte – zumindest auf Anhieb – selbst ausgesuchten Kennerinnen und Kennern der Musikgeschichte nicht leichtfallen. Ich helfe Ihnen:
Zu Lebzeiten galten beide als absolute Schwergewichte der Kompositionskunst. Wer, Korngold? Ja, tatsächlich. Er war eines dieser »Wunderkinder«. Schon in jungen Jahren zählen Richard Strauss und Gustav Mahler zu seinen Bewunderern, mit 11 Jahren wird sein erstes Ballett aufgeführt. Mit Anfang 20 komponiert er sein berühmtestes Werk, »Die tote Stadt«, und wird neben Strauss zum meistgespielten Opernkomponisten im deutschsprachigen Raum. Giacomo Puccini ist derart entzückt, dass er ihn glatt zur »stärksten Hoffnung der neuen deutschen Musik« kürt. Überzeugt?
Doch es gibt eine weitere, weniger naheliegende Verbindung: Beide Komponisten sind nicht nur in der Welt der klassischen Musik begehrt, sondern auch in der Welt des Films. Rachmaninows Musik ist in Blockbustern mit Greta Garbo, Elizabeth Taylor und Marilyn Monroe zu hören. Korngold gilt als Begründer des klassischen Hollywood-Stils, erhielt zwei Oscars, und John Williams, der wohl bekannteste Filmkomponist unserer Zeit, bezeichnet sich als Korngolds »Enkel«.
Was wie ein filmisches Zeugnis von Wertschätzung, Hochachtung und Respekt anmutet, hatte indes eher negative Auswirkungen auf das Renommée der beiden Tonschöpfer – in der klassischen Welt, versteht sich. Als der Tonfilm noch in seinen Kinderschuhen steckte, wurden Filmkomponisten häufig belächelt, nicht ernst genommen. Es gab Kunstmusik auf der einen Seite und Filmmusik auf der anderen: ein Handwerk, Gebrauchsmusik, Hintergrundgeräusch – seicht, schwelgerisch, im schlimmsten aller Fälle sogar kitschig. Dieser Stempel haftet bis heute an den Namen beider Komponisten. Die Ironie des Schicksals: Rachmaninow hat keine einzige Note Filmmusik geschrieben. Korngold wollte es nie, doch ließen ihm seine Lebensumstände keine Wahl. Aber der Reihe nach – begeben wir uns auf eine Reise durch die Filmgeschichte mit Sergej Rachmaninow und Erich Wolfgang Korngold. Film ab!
Ohne dass er es hätte ahnen können, beginnt Rachmaninows unfreiwillige Karriere als Filmkomponist im Jahr 1892. Noch drei Jahre sollte es dauern, bis die Brüder Max und Emil Skladanowsky in Berlin die ersten Stummfilme vor zahlendem Publikum präsentieren. Es ist kein gutes Jahr für Rachmaninow: Die Uraufführung seiner ersten Oper »Aleko« wird ständig verschoben, die Verkaufszahlen seiner Werke geraten ins Stocken, es gibt kaum Anfragen für Konzerte, und, wenn überhaupt, dann für Benefizkonzerte – sprich ohne Honorar. Ein Jahr zum Vergessen, wären da nicht diese vier Notenseiten mit einem frisch komponierten Werk, das ihn weltberühmt machen wird: das Prélude in cis-Moll op. 3 Nr. 2.
Rachmaninows Cousin Alexander Siloti nimmt es mit auf Europa- und Amerikatournee, und die Dinge nehmen ihren Lauf: Ein unglaublicher Hype entsteht. Als Rachmaninow einige Jahre später selbst auf Konzertreise geht, ist das Stück in aller Ohren. Kein Auftritt kann zu Ende gehen, ohne dass das Prélude erklingt – spätestens als Zugabe. Irgendwann ruft das Publikum nicht mehr »Zugabe«, sondern »cis-Moll!«, Rachmaninow ist nicht mehr Rachmaninow, sondern »Mr. cis-Moll«, die Tour wird zur Tortur.
Kaum verwunderlich: Das Prélude wird auch in der großen Filmmaschinerie Hollywoods rege verarbeitet, vor allem in Cartoons, Slapstick- oder makabren Szenen: Im Stummfilm »Prelude« von 1927 sinniert ein Mann über seine eigene Beerdigung, während er dieses Stück hört. In einer Szene aus »A Day at the Races« (Das große Rennen) von 1937 richtet Hauptdarsteller Harpo Marx sein Instrument hin, indem er das »Prélude« so gestenreich spielt, dass es in seine Einzelteile zerfällt – und somit auch das Stück. Zehn Jahre nach seiner ersten nennenswerten Verwendung sind die Filme bereits so überladen mit diesem Stück Musik, dass sich Disney zu einer Parodie genötigt sieht – Micky Maus spielt Rachmaninow. Der wiederum meint, er sei »noch nie so bewegt gewesen, wie durch die Aufführung vom großen Maestro Maus.« Es nützt ja nichts, man muss es eben mit Humor nehmen.
Da fällt die filmische Verwendung von Rachmaninows zweitem Klavierkonzert zwar deutlich vielfältiger und tiefgreifender aus – etwa in »Grand Hotel« (Menschen im Hotel) von 1932, wo das Konzert als Leitmotiv für die von Greta Garbo grandios verkörperte Hauptfigur »Grusinskaya« fungiert –, doch lassen einzelne Szenen anderer Filme erahnen, woher der Seifenoper-Vergleich rührt. Vorhang auf für Marylin Monroe: Im titelgebenden »Verflixten 7. Jahr« (The Seven Year Itch) schickt Richard Sherman seine Frau samt Kind über die heißen Sommertage aufs Land und bleibt allein in der Stadt zurück. Er schwört sich, anders als andere Geschlechtsgenossen, nicht in Trinkgelage und Liebeleien zu verfallen. Doch als die schöne junge Frau, Rollenbezeichnung »Das Mädchen«, in die Wohnung über ihm zieht, sind seine guten Vorsätze schnell vergessen. Eines Nachmittags fragt sich Sherman, wie er »das Mädchen« wohl beeindrucken könnte. Sherman am Klavier: »Mal sehen: Debussy? Ravel? Strawinsky? Strawinsky würde ihr nur Angst einjagen. Ja, ja, ja. Hier ist das Baby. Rachmaninow! Ich gebe ihr die volle Dröhnung. Legt los wie die Feuerwehr! Der gute alte Rachmaninow. Das zweite Klavierkonzert. Verfehlt nie sein Ziel.«
In einem Tagtraum malt er sich die Szene aus: Im roten Samt-Blazer sitzt Sherman am Klavier, verliebt, vielleicht auch ein wenig selbstverliebt, blickt schwelgerisch ins Nichts und spielt den 1. Satz des Konzerts. Das hört »das Mädchen«, steigt in typischer Monroe-Manier die Treppen herab und lehnt sich verführerisch über den Flügel:
Mädchen (gehaucht): Rachmaninow!
Richard Sherman: Das zweite Klavierkonzert.
M: Das ist nicht fair.
RS: Nicht fair? Warum nicht?
M: Jedes Mal, wenn ich es höre, breche ich zusammen.
RS: Oh?
M: Darf ich mich neben Sie setzen?
RS: Ja, bitte.
M (voller Ekstase): Es schüttelt mich, es lässt mich erschaudern. Ich bekomme eine Gänsehaut am ganzen Körper. Ich weiß nicht, wo ich bin, oder wer ich bin, oder was ich tue. Hören Sie nicht auf, hören Sie nicht auf! Hört niemals auf!
[Klavierpassage vorbei]
M: Warum haben Sie aufgehört?
RS: Du weißt, warum ich aufgehört habe.
M: Warum?
RS: Weil... Weil ich dich jetzt in meine Arme nehmen werde und dich küssen werde, heiß und innig.
Rachmaninow hat nie »für« den Film geschrieben. Seine Werke wurden nachträglich hinzugefügt. Der Film richtet sich also nach der Musik, nicht die Musik nach dem Film. In den allermeisten Fällen wird sie als Inzidenzmusik verwendet, als Musik, deren Ursprung im Bild erkennbar ist. Damit ist sie Teil der filmischen Handlung, wird häufig sogar live wiedergegeben, und folglich ihrem eigentlichen Kontext entrissen. Bei Korngold ist das anders.
Als er 1934 ein Telegramm aus Hollywood erhält, steckt Korngolds neueste Oper »Die Kathrin« gerade in den Startlöchern. Auch er kann nicht ahnen, welche Richtung sein Lebensweg durch dieses Schreiben einschlagen wird. Der bereits emigrierte Theaterregisseur Max Reinhardt plant, Shakespeares »Sommernachtstraum« zu verfilmen, Korngold soll die dazugehörige Schauspielmusik von Mendelssohn arrangieren. In der festen Überzeugung, es handle sich um eine einmalige Sache, sagt er zu. In den USA angekommen wird er gleich auf Hitler angesprochen. Ohne wirklich Englisch zu sprechen, entgegnet er: »I think Mendelssohn will outlive Hitler«. Das kommt gut an im Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Ohne jemals mit der Filmwelt zu tun gehabt zu haben, weiß er gleich, worauf es ankommt: Bei einer Begehung des Filmgeländes fragt er, wie lange der Abschnitt eines Filmstreifens von einem Fuß, 30 cm, auf der Leinwand zu sehen ist. Auf die Erklärung hin antwortet er: »Ah, exakt die gleiche Zeitspanne wie die ersten beiden Takte des Mendelssohn-Scherzos.« Korngold arbeitet sehr akribisch, rechnet die Filmsequenzen in Taktlängen um, achtet auf die Kongruenz von Sprach- und Musikrhythmus. Am Set unterbricht er den Dreh, um Schauspieler:innen die richtigen Einsätze zu geben, formuliert Dialoge um, damit sie besser auf die Musik passen. Die Filmproduzenten stehen mit offenem Mund daneben. So etwas haben sie noch nie gesehen.
Der Film wird zwar durchfallen, doch die Musik ausdrücklich gelobt. Auch die Produktionsfirma Warner Bros. zeigt sich begeistert und bietet gleich einen Folgeauftrag an. Doch Korngold ziert sich. Schließlich wartet in Wien ja »Die Kathrin« auf ihre Uraufführung. Und außerdem: Eigentlich hat er es nicht so mit der Filmmusik. Einerseits arbeitet er zwar nach dem Leitsatz »ein Apfelbaum wird immer wieder nur Äpfel als Früchte tragen«, »Musik ist Musik«, Korngold ist Korngold, ganz gleich ob Oper oder Film. Andererseits ist er noch fest im urromantischen Kunstempfinden verhaftet. Er unterscheidet sehr wohl zwischen Kunst- und Gebrauchsmusik: »Letzten Endes sind es zwei verschiedene Dinge – Filmmusik schreiben und Kunstmusik schreiben. An das eine geht man wie ein Handwerker heran, an das andere wie ein inspirierter Schöpfer«. Seine Frau wird sich später erinnern: »Er hätte wahrscheinlich auch für den Film nicht geschrieben, wäre er nicht materiell dazu gezwungen gewesen.«
Zunächst aber schlägt Korngold in Hollywood alle Offerten aus und kehrt nach Wien zurück, um sich um die Uraufführung seiner Oper zu kümmern. Doch hier zieht sich die faschistische Schlinge immer weiter zu, ein Verbleib wird immer gefährlicher. Sechs Wochen vor dem »Anschluss« erreicht ihn ein Angebot von Warner. Ohne es zu wissen, entkommt er gerade noch rechtzeitig: »Robin Hood hat mir das Leben gerettet«, sagt er später. Nach einigen beruflichen Kurzaufhalten ist Korngold nun gezwungen, seiner Heimat auf unbestimmte Zeit den Rücken zu kehren – und sich und seine Familie mit der Filmmusik über Wasser zu halten. Die perfekten Arbeitsbedingungen, die gute Bezahlung, das hohe Ansehen und ein traumhaftes Anwesen lassen ihn zwar von der »Vertreibung ins Paradies« sprechen, doch die Situation hinterlässt merkliche Spuren: »Ich […] war geistig und materiell mittellos geworden. Lässt sich im Alter ein neues Leben beginnen? Nur ein neues Sterben. In diesen Zeiten gab es ohnedies keine Ruhe –, nur einen Unruhezustand. Eine mit Gewalttat, Hass, Unmoral, Verhöhnung alles Geistigen vergiftete Zeit vergiftete die Seele.«
In den kommenden acht Jahren wird Korngold die Filmmusik Hollywoods revolutionieren, den klassischen Hollywoodstil und eine Kompositionsweise begründen, an der sich seine Nachfolger orientieren werden. Er komponiert am Klavier, während der Filmprojektor läuft, erweitert den Klangkörper von einer besseren Tanzkapelle zu einem großen Orchester. Er greift auf Kompositionsprinzipien aus dem Bereich der Oper zurück, indem er die Filmskripte zum einen durchkomponiert – annähernd durchgehend Musik, jede Szene separat vertont, keine wiederholten Einzeltracks – und zum anderen die Leitmotivtechnik verwendet – musikalische Motive, die mit Protagonist:innen in Verbindung stehen und sich je nach Stimmung verändern können. So schafft Korngold mit musikalischen Mitteln neue Sinneinheiten und -zusammenhänge, verschärft den emotionalen Ausdruck einer Szene und sorgt für eine engere Bindung zwischen Film und Publikum. Entgegen seiner Selbsteinschätzung als kompositorischer Handwerker werden seine Errungenschaften für die Filmwelt erkannt und honoriert – zwei Mal heißt es: »And the Oscar goes to… Erich Wolfgang Korngold!« 1936 für »Anthony Adverse«, 1938 für »Robin Hood«.
An seiner Grundeinstellung ändert das nichts. Nach Kriegsende kehrt er nach Europa zurück, um sich wieder als in seinem Sinne seriöser Kunstschaffender zu etablieren. Er scheitert: Einerseits, weil er als »letzter Romantiker« von der Nachkriegsgeneration nicht mehr verstanden wird, andererseits, weil ihm der Geruch von Hollywood noch anhaftet. Sein Violinkonzert wird als »Hollywood-Konzert« abgetan, von »Mehr Korn als Gold« ist die Rede. Sein Cellokonzert und die Fis-Dur-Symphonie werden kaum wahrgenommen. Ja, der Apfelbaum trägt immer wieder nur Äpfel als Früchte – Äpfel jedoch, die rund zehn Jahre unter der kalifornischen Sonne gereift sind.