Johannes Brahms und Richard Strauss galten in der europäischen Kunstmusik ihrer Epoche als Antipoden. Der eine Generation jüngere Strauss gebärdete sich vor und um 1900 als Heißsporn, der mit seinen »symphonischen Dichtungen« die Musikwelt aus den Angeln heben wollte. Im Kontrast dazu wurde Brahms in der Nachfolge Ludwig van Beethovens als Bewahrer und legitimer Vollstrecker des klassischen Erbes angesehen. Da wundert es nicht, dass beide in den Brennpunkt eines heftigen, mit polemischen Attacken geführten ästhetischen Konflikts gerieten, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Gemüter erhitzte und die Musikszene in zwei Lager spaltete.
Auf der einen Seite stand als Vertreter von Programmmusik und Musikdrama die »Neudeutsche Schule« um Franz Liszt, Richard Wagner und später eben auch Richard Strauss, die sich als »musikalische Fortschrittspartei« begriff. Auf der anderen Seite hatten sich die Verfechter sogenannter »absoluter Musik« positioniert. Sie scharten sich um den vermeintlich konservativen Johannes Brahms, der in den Schlagabtausch hineingezogen und zum Aushängeschild stilisiert wurde. Während die »Neudeutschen« die »poetische Idee« als schöpferische Grundlage hervorhoben, konterte das wortgewandte Sprachrohr der Gegenpartei, der Wiener Kritikerpapst Eduard Hanslick, mit der »tönend bewegten Form«. Aus historischer Sicht mutet dieser Richtungsstreit allerdings auch wie ein Versuch an, sich durch die Beschwörung von Gegensätzen und die Abarbeitung an musikalischen Feindbildern Legitimation zu verschaffen, statt die drohende Auflösung überkommener und lieb gewordener Traditionen feststellen zu müssen. Richard Strauss trug durchaus auch konservative Züge, die in späteren Jahren stark zur Geltung kamen, und Johannes Brahms war beileibe kein musikalischer Reaktionär.
»Alles aus einem, das haben wir von Brahms gelernt«
Wie »modern« er war, erkannte als einer der Ersten Robert Schumann, der in seinem berühmten, 1853 in der Neuen Zeitschrift für Musik publizierten Aufsatz »Neue Bahnen« von Brahms schwärmte: »... eine neue Kraft der Musik schien sich anzukündigen, wie dies viele der hochaufstrebenden Künstler der jüngeren Zeit bezeugen, wenn auch deren Produktionen mehr einem engeren Kreise bekannt sind. Ich dachte, die Bahnen dieser Auserwählten mit der größten Teilnahme verfolgend, es würde und müsse nach solchem Vorgang einmal plötzlich einer erscheinen, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen berufen wäre, einer, der uns die Meisterschaft nicht in stufenweiser Entfaltung brächte, sondern, wie Minerva, gleich vollkommen gepanzert aus dem Haupte des Kronion spränge. Und er ist gekommen, ein junges Blut, an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms, kam von Hamburg, dort in dunkler Stille schaffend ...«
Während Schumann die Bedeutung von Brahms auf die Zukunft projizierte, blickten Arnold Schönberg, Anton Webern und Alban Berg, die Komponisten der »Zweiten Wiener Schule«, Anfang des 20. Jahrhunderts ehrfürchtig auf ihn zurück. Sie reklamierten die strukturelle Strenge seiner Musik als Voraussetzung für ihre eigenen künstlerischen Errungenschaften. »Alles aus einem, das haben wir von Brahms gelernt«, betonte Webern 1933 in seiner Vortragsreihe »Der Weg zur Neuen Musik«. Tatsächlich leitete Brahms zumal in seinen späteren Werken alle thematischen Figuren aus einem motivischen Kern ab, was auf Schönbergs Zwölftontechnik vorausweist, in der sämtliche musikalischen Prozesse auf einer Tonreihe aus den 12 Tönen der chromatischen Tonleiter basieren.
Die »Klassiker«, allen voran Beethoven, galten ihm zwar als Vorbild und Maßstab, aber vor allem auch als Ansporn zum Weiterdenken und Weiterentwickeln. Und dass gerade das substanziell Neue nicht zu demonstrativer Hervorhebung taugt und daher – halb verborgen im traditionellen Gewand – oftmals nicht sofort als solches offenkundig wird, ist für die Musikgeschichte typisch. Aber nicht nur Brahms’ angeblich konservative Haltung war eine falsche Zuordnung, denn viele seiner Werke entsprechen auch den Maßgaben der »absoluten Musik« nur bedingt. Seine schöpferische Energie wurde oftmals von außermusikalischen Erlebnissen beeinflusst oder erst durch sie angeregt und freigesetzt. Das konnten einschneidende persönliche Erfahrungen wie unerfüllt gebliebene Liebe und Anteilnahme am Schicksal ihm nahe stehender Menschen sein. Programmatische Andeutungen sind als Quelle der Inspiration zwar kaum zu überschätzen, für das Erscheinungsbild der Musik aber letztlich zweitrangig.
»Ich bin nicht gern eilig beim Schreiben«
Das gilt auch für Brahms’ einziges Violinkonzert, das für den berühmten Geiger Joseph Joachim entstand. 1853 trafen sich die beiden erstmals und freundeten sich an, doch es sollte noch ein Vierteljahrhundert vergehen, ehe Brahms ein Konzert für Joachim schrieb. Grund dafür war seine bohrende Selbstkritik. So sicher er sich auf dem Klavier, seinem ureigenen Instrument, fühlte, so unsicher tastete er sich auf das Feld der Orchestermusik vor – mit Beethoven im Nacken, »der als ein Riese hinter ihm marschierte«. Erst 1876 vollendete er seine 1. Symphonie, von deren Kopfsatz bereits 1862 eine Frühfassung existierte. Nicht, dass nun mit einem Schlag alle Selbstzweifel verflogen wären, aber immerhin, der Bann war gebrochen. Kurz nach der ersten Symphonie machte er sich an die Niederschrift der zweiten, und 1878 folgte, ebenfalls in Brahms’ Sommerfrische im idyllischen Pörtschach am Wörthersee, das Violinkonzert D-Dur op. 77.
Während seines Aufenthalts dort setzte ein reger brieflicher Diskurs mit Joachim über musikalische Details ein, der über die Uraufführung hinaus andauerte, da Brahms bis zur Drucklegung noch Änderungen vornahm. Gewiss ist der Einfluss des Geigenvirtuosen nicht zu unterschätzen. Im Gegenzug ignorierte Brahms aber viele Ratschläge und Kritikpunkte Joachims, auch bezüglich spieltechnischer Schwierigkeiten. Zunächst unwirsch reagierte Brahms auch auf den von Joachim anvisierten Termin der Uraufführung, die dann aber doch am Neujahrstag des Jahres 1879 im Leipziger Gewandhaus stattfinden konnte: »Ich bin nicht gern eilig beim Schreiben und beim Aufführen – habe auch alle Ursache dazu! Wenn es Dir also irgend wünschenswert ist, so verfüge über den Januar, denn Bestimmtes kann ich den Augenblick nicht sagen.«
Womöglich enger als zunächst beabsichtigt geriet die Anlehnung an Beethovens Violinkonzert, der wie Brahms nur einen einzigen Beitrag zu dieser Gattung leistete. Beide Konzerte stehen in der gleichen Tonart, D-Dur, und ähneln sich auch im Hinblick auf ihre Proportionen mit dem Hauptgewicht auf dem Kopfsatz. Trotz dieser Parallelen schuf Brahms ein eigenständiges Werk, dessen Grundstimmung entspannt und gelöst ist, ohne dass es an emotionaler Dichte mangeln würde. Im Kopfsatz, für dessen Solokadenz er Joachim freie Hand ließ, durchdringen sich lyrische Anwandlungen und leidenschaftliche Dramatik, während sich im langsamen Mittelsatz ein sanfter Gesang fortspinnt, in dem heiterer Tonfall unverkennbar ist. Und mit den Anklängen an ungarische Volksmusik im ausgelassenen Finale huldigte Brahms nicht nur eigenen Vorlieben, sondern auch Joseph Joachim, der seine ungarische Herkunft stets stolz hervorhob.
»Zukunftsmusik«
Richard Strauss komponierte zehn symphonische Dichtungen, die er selbst »Tondichtungen« nannte. Um sich gegen seine Widersacher, die ihm »bloße Illustrationskunst« vorwarfen, zu wehren, nahm er Beethovens im Zusammenhang mit der 6. Symphonie, der »Pastorale«, gefallene Bemerkung »Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei« für sich in Anspruch: »Für mich ist das poetische Programm«, so Strauss, »auch nichts anderes als der Formen bildende Anlass zum Ausdruck und zur rein musikalischen Entwicklung meiner Empfindungen; nicht wie sie glauben, bloß eine musikalische Beschreibung gewisser Vorgänge des Lebens. Das wäre doch ganz gegen den Geist der Musik. Aber dass die Musik nicht in reine Willkür sich verliere und ins Uferlose verschwimme, dazu braucht sie gewisser Form bestimmender Grenzen, und dieses Ufer formt ein Programm. Und mehr als ein gewisser Anhalt soll auch für den Hörer ein solch analytisches Programm nicht sein. Wen es interessiert, der benütze es. Wer wirklich Musik zu hören versteht, braucht es wahrscheinlich gar nicht.«
Gerade durch konkrete Programme ergaben sich für Strauss neue, bis dato ungeahnte Möglichkeiten der Abstraktion und Ausdrucksintensivierung. Durch die Orientierung an außermusikalischen Inhalten konnte er das formale, harmonische, klangliche und spieltechnische Spektrum erweitern und Neuerungen rechtfertigen. In »Also sprach Zarathustra« kam dies stark zur Geltung. Gerade mit Nietzsche und in der Auseinandersetzung mit dessen geistig-philosophischem Kosmos das Tor zur »Moderne« zu öffnen, machte im Zeitkontext Sinn – denn Nietzsches in den 1890er-Jahren äußerst populäre und heiß diskutierte Schrift »Also sprach Zarathustra« propagiert mit rauschhaftem Pathos die Idee des Übermenschen und verbindet sie mit beißender Kulturkritik. Für die »musikalische Fortschrittspartei« um Strauss wurde Nietzsches Philosophie zum künstlerischen Leitbild und zum ästhetischen Fundament des von Richard Wagner geprägten Begriffs der »Zukunftsmusik«.
Als Initialzündung für utopische Welten verwendete auch der amerikanische Regisseur Stanley Kubrick die Einleitung von »Also sprach Zarathustra« 1968 in seinem berühmten Film »2001 – Odyssee im Weltraum«. Welche »Bilder« Strauss beim Komponieren über 70 Jahre zuvor im Kopf hatte, ist leider nicht überliefert. Aber er hatte klare Vorstellungen und wählte aus den über 80 Abschnitten des »Zarathustra« acht zur Vertonung aus: »Von den Hinterweltlern«, »Von der großen Sehnsucht«, »Von den Freuden und Leidenschaften«, »Das Grablied«, »Von der Wissenschaft«, »Der Genesende«, »Das Tanzlied« und »Nachtwanderlied«. Dem selbst gestellten Anspruch, »Zukunftsmusik« zu schreiben, wurde er vor allem auf dem Feld der Harmonik gerecht. Für den Abschnitt »Von der Wissenschaft« konstruierte er ein Thema, das alle 12 Töne der chromatischen Tonleiter enthält. Es klingen darin aber auch Düsternis, Wehmut und Unbehagen an – Unbehagen an einer »modernen« Welt; in der alle dunklen Geheimnisse gelüftet werden.
»Laßt uns in die Nacht wandeln!«
Im letzten Teil, dem »Nachtwanderlied«, konfrontierte Strauss die Tonarten H-Dur und C-Dur, die zusammen wiederum alle 12 Töne umfassen. Der »bitonale« Konflikt zwischen beiden Tonarten ist programmatisch motiviert: Er symbolisiert den Zwiespalt zwischen Zuversicht und Zweifel, zwischen Aufbruch und Schwermut am Ende des 19. Jahrhunderts, wie er auch im zunächst vorgesehenen und dann wieder verworfenen Untertitel des Werks zum Ausdruck kam: »Symphonischer Optimismus in fin de siècle-Form, dem 20. Jahrhundert gewidmet«: »Alsbald wurde es rings still und heimlich; aus der Tiefe aber kam langsam der Klang einer Glocke herauf. Zarathustra horchte darnach, gleich den höheren Menschen; dann aber legte er zum andern Male den Finger an den Mund und sprach wiederum: ›Kommt! Kommt! Es geht gen Mitternacht!‹ – und seine Stimme hatte sich verwandelt. Aber immer noch rührte er sich nicht von der Stelle: da wurde es noch stiller und heimlicher, und alles horchte, auch der Esel, Zarathustras Ehrentiere, der Adler und die Schlange, insgleichen die Höhle Zarathustras und der große kühle Mond und die Nacht selber. Zarathustra aber legte zum dritten Male die Hand an den Mund und sprach: ›Kommt! Kommt! Kommt! Laßt uns jetzo wandeln! Es ist die Stunde: Laßt uns in die Nacht wandeln!‹«
Sehnsuchtsvoll trägt das »Nachtwanderlied« den Charakter einer Hymne, aber Strauss brachte zugleich ein weit verbreitetes Lebensgefühl seiner Zeit auf den Punkt. Einerseits dem Fortschritt, auch dem musikalischen Fortschritt, sehr zugewandt, kamen andererseits eben auch Rückschau und Nostalgie zum Ausdruck – und das sollte sich in seinem gesamten Schaffen als wesentlich erweisen. So »modern« er zunächst auch war, den entscheidenden Schritt in die musikalische »Moderne«, den Durchbruch zur »atonalen« Musik, den Schönberg, Berg und Webern um 1908 vollzogen, scheute er.
Einige Jahrzehnte später wäre Strauss, inzwischen ein hoch geehrter Komponist, in anderer Hinsicht beinahe »in die Nacht gewandelt«, als die Politik ihn einholte. Im Herbst 1933 diente er sich dem NS-Regime als Präsident der Reichsmusikkammer an; zwei Jahre später trat er aber nach einem Streit mit der NS-Führung wegen eines Briefs an den von den Nationalsozialisten geächteten Schriftsteller Stefan Zweig wieder zurück. Im Rampenlicht der Machthaber stand er noch einmal 1936, als die von ihm stammende »Olympische Hymne« bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in Berlin erklang. Danach, entzog er sich aber mehr und mehr zurück, um vollends in die – von ihm als unschuldig empfundenen – Gefilde der Kunst einzutauchen.