Benjamin Brittens »War Requiem« und Norbert Schultzes »Lili Marleen«: zwei Werke, die unterschiedlicher nicht sein könnten – zumindest auf dem Papier. Hier das gigantische Oratorium eines weltberühmten Komponisten für Orchester, Orgel und mehrere Chöre und Solist:innen, mit englischen und lateinischen Texten. Dort ein einfacher deutscher Schlager auf die Abschiedszeilen eines unbekannten Soldaten kurz vor der Verlegung an die Front. Doch trotz aller Unterschiede tragen beide Werke die gleiche Kernbotschaft in die Welt: Versöhnung und Völkerverständigung.
»Und es war immer noch still, viele Menschen hatten Tränen in den Augen, alle waren so mitgenommen, ein außergewöhnlicher Moment, der mich mein Leben lang begleitet«, erinnert sich Maggie Cotton, Schlagzeugerin des City of Birmingham Symphony Orchestra, an den Augenblick, als die letzten Töne des »War Requiem« von Benjamin Britten nach der Uraufführung am 30. Mai 1962 verklungen sind.
Damals wie heute geht das Werk Menschen aus allen Nationen unter die Haut. An Aktualität hat es nichts eingebüßt – leider! Damals wie heute gilt das »War Requiem« als musikalische Warnung vor den Grauen des Krieges und als Zeichen der Aussöhnung zwischen Freund und Feind: Dafür steht erstens der symbolträchtige Ort der Uraufführung: die von deutschen Bomben zerstörte und wiederaufgebaute Kathedrale von Coventry. Zweitens die Vertonung der aufwühlenden Zeilen von Wilfred Owen, eines Gefallenen des 1. Weltkriegs. Und drittens das verbindende Moment der angedachten Besetzung: der englische Tenor Peter Pears, der deutsche Bariton Dietrich Fischer-Dieskau und die russische Sopranistin Galina Wischnewskaja (die allerdings letzten Endes keine Ausreisegenehmigung erhält): Ehemalige Feinde kommen zusammen, um sich in der Musik zu versöhnen.
Schon zu Zeiten des 2. Weltkriegs gab es ein Lied, das es vermochte, Feinde in der Musik zu vereinen. Es ist das berühmteste Soldatenlied dieser Zeit, ein Grenzen überwindender Mythos. Alle kannten es, die meisten liebten es: »Lili Marleen«, ein Schlager, gesungen von Lale Andersen, komponiert von Norbert Schultze auf einen Text von Hans Leip, der wie Wilfred Owen im 1. Weltkrieg diente. Auf allen Seiten der vielen Fronten versammelten sich Soldaten, um der Melodie von »Lili Marleen« zu lauschen: Deutsche, Engländer, Russen. Heute interpretieren die einen den Hit als Ikone der Völkerverständigung, andere fühlen sich an die grausamen Verbrechen der Deutschen erinnert oder werten es als Romantisierung und Verharmlosung der Kriegsmaschinerie. Begeben wir uns auf die Spur eines Liedes für Freund und Feind.
Berlin, 1915: In einer nebeligen Aprilnacht bewacht ein 21-jähriger Infanterist die Kaserne in der Kesseler Straße. Links und rechts die Pfosten des Eingangstors, über ihm eine Laterne, in seinem Kopf Abschiedsgedanken und Todesängste. Morgen soll seine Einheit an die Karpatenfront verlegt werden. Von der Melancholie des Moments erfasst denkt er an seine beiden Schwärme, die blonde Lili und die brünette Marleen. »Und wie ich dann abgelöst wurde und auf meiner Pritsche lag habe ich in mein Notizbuch die ersten drei Verse gekritzelt.«
Vor der Kaserne,
Vor dem großen Tor,
Stand eine Laterne
Und steht sie noch davor.
So woll’n wir uns da wiederseh’n,
Bei der Laterne woll’n wir steh’n,
Wie einst, Lili Marleen.
Hans Leip überlebt. Zum Vergessen ist für ihn nicht nur die Zeit an der Front, sondern auch sein literarisches Frühwerk. Es ist ihm peinlich. Nur auf Drängen seines Verlegers schafft es das Gedicht in seine erste Lyriksammlung »Die kleine Hafenorgel« von 1937.
Dort entdeckt es zwei Jahre später die junge Sängerin Lale Andersen, als sie neues Material für ihr Bühnenprogramm sucht: »Ich habe zuerst das Gedicht so sehr geliebt und habe es von einem jungen Münchener Komponisten vertonen lassen, der es sehr lyrisch vertont hat. Also ganz chansonhaft.« In Berlin begegnet sie kurz darauf dem Komponisten Norbert Schultze im sagenumwobenen »Groschen Keller«, der von ihren Gesangskünsten zunächst gar nicht begeistert ist: »Ich hatte ihr dort gesagt: ›Du wirst es nie schaffen. Mit diesem Genöle, was Du machst, da kannst Du doch keinen Erfolg haben.‹« Sie bittet ihn trotzdem um eine zweite Version. Hans Leip wird später »den Duft von Brackwasser in ihrer Stimme« erkennen. Was niemand ahnt: Eben dieses spezielle Timbre wird schon bald einen beträchtlichen Anteil am Erfolg des ersten Millionenhits Deutschlands haben.
Schultze schreibt ihr also eine zweite Version des Liedes, die sie am 2. August 1939 mit in ein Berliner Tonstudio nehmen. Die fertige Aufnahme wird noch einmal neu abgemischt: mit Orchester, Soldatenchor und einem Hauch von Marschrhythmus. Schultze erinnert sich: »Weder der Zapfenstreich war meine Erfindung noch der Bumm-Bumm-Rhythmus im Hintergrund. Es war damals Lale gesagt worden: ›Also, Mädchen, dieses Lied, das wird bestimmt kein Erfolg, aber wir machen mal den Versuch, wenn wir es ein bisschen militärisch aufzäumen. Die Wehrmacht ist ja im Kommen.‹« Als die Wehrmacht 30 Tage später Polen angreift, stellt sich heraus, wie zynisch diese Vorhersage ist. Der Erfolg der Platte bleibt trotzdem lange überschaubar: Lediglich 700 Exemplare gehen über die Ladentische. »Es war ein Flop, wie man so schön sagt. Und es mussten erst andere Umstände eintreten, um plötzlich dieses Lied wieder aus der Versenkung hervorzuzaubern«, gesteht Schultze.
Diese »anderen Umstände« ergeben sich schon zwei Jahre später. Am 6. April 1941 marschiert die Wehrmacht in Jugoslawien ein und erobert das Land nach wenigen Tagen. In der Hauptstadt Belgrad wird Leutnant Karl-Heinz Reitgen damit beauftragt, einen Soldatensender einzurichten, um die Front über Mittelwelle mit der Heimat zu verbinden. An Reichweite mangelt es also nicht, sehr wohl aber an geeignetem – sprich deutschem – Liedgut. »Dann schickten die einen Kurier nach Wien, um dort Schallplatten zu besorgen. Und die Wiener gaben ihnen alles, was sie nicht mehr senden wollten.« Darunter »Lili Marleen«. Das eigentlich aussortierte Lied wird mangels Alternativen gleich ins Programm genommen und eine einzigartige Geschichte nimmt ihren Lauf. Fortan gehen bis zu 12.000 Zuschriften ein – täglich! Dietrich Schultze glaubt, das Lied sei zu einem »Symbol für Heimweh, Trennung und Sehnsucht« geworden, »vor allem für Hoffnung auf Wiedersehen«. Zur rechten Zeit am rechten Ort, könnte man sagen. Denn anders als das Gute-Laune-Haltet-durch-Geklingel aus dem Reichspropagandaministerium, vermitteln Text, Melodie und die Stimme von Lale Andersen nicht die Gefühle, die die Soldaten empfinden sollen, sondern die, die sie tatsächlich empfinden. Wehmut, Angst, Verlorenheit, statt Patriotismus, Stolz und Kriegswut. Dass aus den gewünschten Kriegsmaschinen auf einmal fühlende Individuen werden, betrachtet die Nazi-Führung natürlich mit größtem Argwohn. Doch schon bald muss sie feststellen, dass das Lied stärker ist: Als der Sender »Lili Marleen« von der Playlist streicht, baut sich eine derartige Protestwelle auf, dass das Lied aus Sorge vor einem Soldatenaufstand wieder ausgestrahlt wird. Nun erklingt es jeden Abend um kurz vor 22 Uhr am Ende einer Grußsendung, in der Frontbriefe vorgelesen werden. Wie viele Liebespaare hier wohl zeitgleich gelauscht haben und in Gedanken bei ihren Liebsten waren? Radio kennt eben keine Grenzen – und keine Fronten. Auch jenseits der Schützengräben gerät »Lili Marleen« in Umlauf. »Was wir ja auch erlebt haben, dass die Englänger ab halb 10 abends herangekrochen kamen. Und es war ja dann eine unausgesprochene Selbstverständlichkeit, dass nicht geschossen wurde, weil man wusste, die kommen nicht, um uns anzugreifen, sondern um das Lied zu hören«, meint ein Wehrmachtssoldat aus dem Afrikakorps. »Louder, please!«, sollen sie gerufen haben. Und ein englischer Veteran erinnert sich: »Der Krieg hörte auf für die Zeit, in der sie ›Lili Marleen‹ sangen.« Unabhängig prüfen lassen sich diese Aussagen zwar nicht, doch stimmen die meisten Überlieferungen im Kern überein. Und auch der kanadische Sender CBC berichtet von der Meerenge von Messina: »Die Kanadier pfeifen und summen eine neue Melodie, während sie die Küstenstraße von Sizilien entlangfahren. Die meisten kennen die Worte des Liedes nicht und nur wenige kennen den Titel. Aber der Song klingt ständig in ihren Köpfen. Diese fesselnde Melodie, die zum Lied des Mittelmeerkriegsschauplatzes geworden ist.«
Bei den Briten ist das Lied bald so berühmt, dass die Verantwortlichen einen negativen Effekt auf die Kriegstüchtigkeit ihrer Mannen fürchten: »Es muss etwas gegen ›Lili Marleen‹ unternommen werden. Das Lied aus dem deutschen Rundfunk wiegt das Afrikakorps in den Schlaf und kitzelt jeden Abend die sentimentalen Ohren unserer eigenen 8. Armee. Die Sängerin, Lale Andersen, ist der Star der deutschen Armee und wird zum Schwarm der Briten im Nahen Osten. Mit ihrer rauchigen, verführerischen Stimme singt sie ein Lied, das direkt ins Herz der heimwehkranken Männer trifft und ihnen fast die Tränen in die Augen treibt.« Doch wie die Deutschen müssen auch die Engländer bald feststellen: Widerstand ist längst zwecklos. Also drehen sie den Spieß einfach um, übersetzen den Text und übernehmen das Lied in ihr eigenes Repertoire. Bald darauf singt Marlene Dietrich vor den GIs an der Westfront:
We will create a world for two
I’ll wait for you, the whole night through
For you, Lili Marleen.
Nicht mehr lang und andere Nationen werden sich anschließen. »Lili Marleen« geht um die Welt.
In Deutschland fällt Sängerin Lale Andersen derweil in Ungnade: Zum einen hält sie Kontakt zu jüdischen Geflüchteten in der Schweiz, darunter ihr Geliebter, der Komponist Rolf Liebermann. Abgefangene Briefe werden als »politisch unwürdig und pornographischen Inhalts« bewertet. Zudem steht eine Ohrfeige gegen einen ranghohen Parteifunktionär im Raum, der versucht, ihr zu nahe zu kommen. Infolgedessen wird entschieden, ihr Lied nicht mehr auszustrahlen und sie persönlich mit einem Auftrittsverbot zu belegen. Lale Anderson verfällt in Depressionen, versucht sich umzubringen.
Nach einem Jahr Sendepause wittern die Briten die günstige Gelegenheit, einen PR-Coup zu landen. Mit englischem Akzent richtet sich das BBC-Programm an die deutsche Hörerschaft: »Ist es Ihnen aufgefallen, dass Sie dieses Lied schon lange nicht gehört haben? Warum wohl? Vielleicht deshalb, weil Lale Andersen im Konzentrationslager ist?« Der Plan geht auf: Goebbels sieht sich gezwungen, die britische Propaganda als Lüge zu enttarnen und begnadigt Andersen. Die muss wieder auftreten. »Lili Marleen« darf sie nicht mehr singen, aber im Radio läuft es wieder – bis Mai 1945: Mit der Kapitulation muss auch der Soldatensender in Belgrad seinen Betrieb einstellen. Das letzte Lied, dass er durch den Äther schickt: »Lili Marleen«.
Das Dritte Reich ist Geschichte – nicht so »Lili Marleen«. Das Lied überlebt den Krieg und büßt nichts von seiner verbindenden Kraft ein: Ein gewisser Dwight D. Eisenhower bezeichnet Textdichter Leip als einzigen Deutschen, der während der Kriegszeit der ganzen Welt Freude bereitete. Lale Andersen ist bis zu ihrem Tod 1972 gern gesehener Gast auf den Veteranenfeiern aller Nationen. Text und Melodien werden weltweit in die militärischen Gesangsbücher gedruckt. Der Höhepunkt der Nachkriegs-Rezeption ereignet sich 1956 in Düsseldorf. Bei einem Konzert tritt Lale Andersen vor 16.000 Veteranen des Afrikakriegs auf, die das Lied in ihrer eigenen Sprache mitgrölen. Diese gelebte Völkerverständigung ist die eine Seite der Medaille. Doch es gibt auch eine Kehrseite: Die weltweite Verbreitung sorgt dafür, dass das Lied bei jeder kriegerischen Auseinandersetzung mitmarschiert – erst Indochina, dann Vietnam. Bis heute begeht die Bundeswehr alljährlich ein Lili-Marleen-Fest. Hierin sehen kritische Stimmen eine Romantisierung, Verniedlichung oder gar Verherrlichung kriegerischer Gewalt. Viele Zeitzeugen verbinden mit der einst unausweichlichen Melodie nicht das wenig Menschliche im Krieg, sondern die vielen unmenschlichen Gräueltaten der Besatzer. Denn als »Lili Marleen« zu Kriegszeiten im Radio läuft, kommt es nicht nur zum Schulterschluss mit dem Feind, sondern auch zu sadistischen Massenerschießungen. Und da wäre da noch das mitunter fragwürdige Verhältnis der drei Protagonist:innen zum NS-Regime: Lale Andersen, Hans Leip und Norbert Schultze. Andersen möchte ihren Erfolg als Diva in Berlin genießen. Augen zu und durch, mag sie sich gedacht haben. Leip wählt einen Mittelweg, schreibt einerseits für Goebbels’ Wochenblatt »Das Reich«, macht sich aber andersherum auch für die Freilassung jüdischer Gefangener stark und erweist »entarteten« Künstlern die letzte Ehre. Anders Schultze: Er komponiert Propagandalieder wie »Bomben auf England« oder »Vorwärts nach Osten« und wird nach dem Krieg mit einem dreijährigen Berufsverbot belegt.
Benjamin Brittens »War Requiem« und Norbert Schultzes »Lili Marleen«: zwei Werke im Zwielicht zwischen Krieg und Frieden. Auf der einen Seite rufen sie unweigerlich Erinnerungen an die Schrecken des Krieges hervor, auf der anderen Seite sind sie zu einem musikalischen Symbol für den sprichwörtlichen Schulterschluss geworden.
»Lili Marleen« bleibt dabei ein einzigartiges Phänomen in der Musikgeschichte – bei aller berechtigter Kritik: Ein Lied, das es schafft, Menschen aus unterschiedlichen Ländern, gesellschaftlichen Prägungen und politischen Systemen trotz größter Feindschaft in der Musik zu vereinen, ihnen in tiefster Dunkelheit einen Funken Hoffnung zu schenken und sich der Macht der Nazi-Propaganda zu widersetzen.