Verzweifelte Liebe zur Erde

Gustav Mahlers Spätwerk »Das Lied von der Erde« Von Matthias Corvin

Kaum ein Komponist ist mit der Vokalsymphonie so eng verbunden wie Gustav Mahler, der als Direktor der Wiener Hofoper und Dirigent in New York seine ruhmreichste Zeit erlebte. Die Gattung wurde einst von Ludwig van Beethoven mit seiner neunten Symphonie begründet. Dort bildet Friedrich Schillers Hymnus »Freude, schöner Götterfunken« das grandiose Finale. Die einbezogenen Texte geben der Musik eine neue Bedeutungsebene – ein wichtiger Schritt hin zum romantischen Ideenkunstwerk.
Doch auch Hector Berlioz‘ dramatische Symphonie »Roméo et Juliette« oder Felix Mendelssohn Bartholdys Symphonie-Kantate »Lobgesang« formten im 19. Jahrhundert Zwittertypen zwischen Oper und Symphonie oder Kantate und Symphonie aus. Singstimmen und Chöre erweitern darin den Orchesterklang. Mahler wurde von solchen Grenzen sprengenden Werken früh inspiriert. Bereits sein mit 20 Jahren vollendetes Frühwerk »Das klagende Lied« mischt Vokalpassagen mit einem großen Orchester.

Mahlers vier Vokalsymphonien

Seinen späteren Vokalsymphonien gab Mahler recht unterschiedliche Gesichter: Die Zweite ist eine mystische »Auferstehungssymphonie«, die Dritte eine weiträumige Weltentstehungssymphonie und die ironische Vierte mündet in ein Lied über das himmlische Paradies. In all diesen Orchesterwerken werden Texte aus der Volksliedsammlung »Des Knaben Wunderhorn« vertont – sodass man auch von seinen »Wunderhornsymphonien« sprach.
Mahlers monumentalste Vokalsymphonie ist allerdings die Achte mit ihrem Finale über Goethes »Faust«. Mit über 1000 beteiligten Vokalisten und Orchestermitgliedern galt dieses Werk bei der Münchner Uraufführung 1910 als die gewaltigste Chorsymphonie ihrer Zeit. Er wüsste keinen anderen Menschen, in dem sich treffender »der ernsteste und heiligste künstlerische Wille unserer Zeit verkörpert«, jubelte Thomas Mann damals über Mahler, der im folgenden Jahr verstarb.

Zwei neunte Symphonien

Mahler hinterließ zwei neunte Symphonien. Die eine – für Orchester – ist heute als seine Neunte bekannt. Bei der anderen handelt es sich um »Das Lied von der Erde«. Der Komponist bezeichnete dieses Werk ebenfalls als »Symphonie für eine Alt- und eine Tenorstimme« – ohne eine Nummer zu vergeben. Doch da das Autograf der anschließend komponierten neunten Symphonie ursprünglich eine zehn als Ordnungszahl erhielt, wäre das »Lied von der Erde« seine eigentliche Nr. 9. Erst nachträglich korrigierte Mahler das wieder.
Hatte er Angst davor, offiziell mehr als neun Symphonien zu komponieren und damit Beethoven übertreffen zu wollen? »Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe. Vielleicht würden die Rätsel dieser Welt gelöst, wenn einer von denen, die sie wissen, die Zehnte schriebe. Und das soll wohl nicht so sein«. So formulierte es der mit Mahler befreundete Komponist Arnold Schönberg in seiner »Prager Rede« von 1913. Allerdings beweisen Mahlers Skizzen zu einer weiteren Symphonie, dass er noch nicht am Ende seiner Pläne war, als er die Welt verließ. Aber offenbar wusste er selbst nicht so genau, welcher Gattung er »Das Lied von der Erde« zuordnen soll. Das verraten auch seine Briefe.

Der symphonische Liederzyklus

»Das Lied von der Erde« steht noch mit einer anderen Gattung in Verbindung. Es ist der orchestrale Lieder-Zyklus, der immer umfangreichere Ausmaße annahm. Orchesterlieder hatte Mahler bereits früher geschrieben, zum Beispiel die berühmte Sammlung der Lieder aus »Des Knaben Wunderhorn«. Auch seine frühen »Lieder eines fahrenden Gesellen« oder die »Kindertotenlieder« gehören diesem Genre an. Darin verschmelzen Lieder mit einem symphonisch mitgestaltenden Orchester.
Solche Mischgattungen, die das eigentlich intime Lied in ein opulentes Klanggewand hüllen, waren um die Jahrhundertwende en vogue. Nach dem Vorbild von Mahlers »Lied von der Erde« wurden sie später auch mal als Symphonie bezeichnet, etwa in Alexander Zemlinskys »Lyrischer Symphonie« (1923) oder noch in Dmitri Schostakowitschs Symphonie Nr. 14 (1969), die aus elf Liedern besteht.

Ein Werk des Abschieds

Ähnlich seiner instrumentalen Neunten markiert Mahlers »Lied von der Erde« für viele einen Abschied von der Welt. Der Tod seiner Tochter Maria Anna an Diphterie und die eigene Herzkrankheit konfrontierten den Komponisten damals mit der Vergänglichkeit. Zurückgezogen in der Südtiroler Ortschaft Schluderbach nahm das Werk Gestalt an. Im Herbst 1910 übergab Mahler dem befreundeten Dirigenten Bruno Walter die fertige Partitur. Der berichtete: »Zum ersten Mal war es, dass er mir ein neues Werk nicht selbst [am Klavier] vorspielte – wahrscheinlich fürchtete er sich vor der Erregung«.
Dann fährt Walter weiter fort: »Ich studierte es und verlebte eine Zeit der furchtbarsten Ergriffenheit mit diesem einzig leidenschaftlichen, bitteren, entsagungsvollen und segnenden Laut des Abschieds und Entschwebens, dieses letzten Bekenntnisses eines vom Tode Berührten.« Am 18. Mai 1911 starb Mahler. Sechs Monate später, am 20. November 1911, brachte Walter das Werk in der Münchner Tonhalle zur Uraufführung. Auch in der bayerischen Hauptstadt gab es einen so benannten Konzertsaal. Er wurde allerdings im Zweiten Weltkrieg durch Luftangriffe zerstört.

Im modischen Exotismus

Mahler vertonte im »Lied von der Erde« Texte des deutschen Dichters Hans Bethge. Er entnahm sie dem 1907 im Insel-Verlag veröffentlichten Gedichtband »Die chinesische Flöte«. Dabei handelt es sich um Nachdichtungen von alter chinesischer Lyrik aus der Tang-Zeit. Aus heutiger Sicht müsste man daran auch das Thema der »kulturellen Aneignung« ansprechen. Der in Berlin lebende Bethge hatte in Halle, Erlangen und Genf neuere Sprachen und Philosophie studiert und publizierte eine Reihe von Büchern, die sich in persische, indische, türkische und japanische Gedichte einfühlten.
Bethge beherrschte allerdings weder chinesisch noch eine andere orientalische Sprache. Daher griff er auf vorhandene deutsche und französische Übersetzungen zurück, die bereits frei mit den Originalen umgingen. Seine Texte nach den Dichtern Li Bai, Qian Qui, Meng Horan und Wang Wei geben nicht annähernd den Wortlaut der Quellen wieder. Der Blick auf die chinesische Welt erfolgte aus westlicher Sicht. Ein tiefgehendes Interesse für die fremde Kultur und deren Sprache gab es nicht. Vielmehr stehen diese Gedichte für den modischen »Exotismus« jener Ära des welterobernden Kolonialismus. Übrigens griff auch Mahler in Bethges Texte ein und änderte einiges nach seinem Geschmack. So sind es eher seine Worte, die hier zu uns sprechen.

China und Japan im Fokus

Der Blick auf den Fernen Osten lag damals jedoch in der Luft. Man denke nur an die chinesisch gefärbten »Turandot«-Vertonungen der Mahler-Zeitgenossen Ferruccio Busoni oder Giacomo Puccini und an Puccinis japanische Oper »Madama Butterfly«. Auch die französischen Komponisten Claude Debussy oder Maurice Ravel ließen sich auf den Pariser Weltausstellungen von Asien inspirieren – das damals noch deutlich weiter weg lag als in unserer durch Tagesflugzeiten geprägten Welt.
Da Mahler chinesische Musik kaum aus erster Hand kannte, fing er das fremde Land durch die in Asien verbreitete pentatonische Tonleiter ein, die aus nur fünf Tönen besteht. Außerdem gab er Holzblasinstrumenten viel Raum zur solistischen Entfaltung. Jenseits dieses oberflächlichen Kolorits sticht jedoch immer sein Individualstil hervor.

Texte der Einsamkeit

Mahler wählte sieben von Bethges Gedichten aus, die am besten zu seiner Weltanschauung passten. Der Refrain des ersten Liedes »Dunkel ist das Leben, ist der Tod« zieht sich wie ein Motto durch das Werk. Die Texte sind Ausdruck einer »verzweifelten Liebe zur Erde, zum Dasein«, geprägt »von einer existentiellen Einsamkeit«, es sind »Gesänge vom Tod und vom Abschiednehmen, von der inneren Gewissheit, aber auch des ewig blauen Leuchtens der Fernen einer anderen Welt, die hinter der irdischen zu ahnen ist«.
Mit diesen Worten erklärte es der Musikautor Franz Ledermann 1982 im Plattentext einer berühmten Einspielung der Berliner Philharmoniker mit Christa Ludwig und René Kollo unter Herbert von Karajan. Dass es in diesem Zyklus auch um den aus der Psychologie bekannten Begriff der »Katharsis« gehe, vermutete hingegen der Mahler-Kenner Mathias Hansen. Durch die erneute Konfrontation mit dem Tragischen erfolge darin eine »seelische Reinigung«.

5 + 1 Sätze

Das »Lied von der Erde« ist zweiteilig angelegt: Die Sätze eins bis fünf bilden einen thematisch umklammerten ersten Abschnitt. In ihnen werden verschiedene Lebenssituationen geschildert wie herbstliche Einsamkeit, Jugend, Schönheit und immer wieder Trunkenheit als Synonym für dionysischen Rausch und Betäubung des Schmerzes.
Der letzte Satz »Der Abschied« verknüpft dann zwei Gedichte Bethges als halbstündigen Abgesang auf alle im ersten Teil geschilderten Zustände. Mit seinem Umfang sprengt er jede in einem Liederzyklus übliche Dimension. Könnte man den ersten Teil noch als Folge von Orchesterliedern verstehen, öffnet dieser Schlusssatz das Tor zur Symphonie, zur Solo-Kantate und auch ein Stück weit zur Oper.

Klänge des Jenseits

Bemerkenswert am »Lied von der Erde« ist nicht zuletzt die transparente Partitur. Das Orchester ist einschließlich Englischhorn, Bassklarinette, Kontrafagott, Tuba, zwei Harfen und Schlagwerk zwar ziemlich groß besetzt, der Klang ist jedoch – abgesehen vom Eröffnungslied – nie kompakt. Vielmehr geht es Mahler um eine kammermusikalische Verfeinerung mit ganz ungewöhnlichen Instrumenten-Kombinationen und teils schroff hervorgehobenen Solo-Linien. Hinzu kommt eine oft dunkle und schwebende Tonalität.
»Das Stoffliche des Klanges, die Gesetzlichkeit seiner Materie tritt zurück vor geistigem Schauen der Tonvision«. So beschrieb es der Dirigent, Intendant und Musikkritiker Paul Bekker 1921 in seinem wegweisenden Buch »Gustav Mahlers Symphonien«. Das Zitat trifft besonders auf den letzten Satz zu, der seine ganz eigene Klangwelt entfaltet: Lange Liegetöne bringen die Musik gleichsam zum Stillstand. »Das Jenseitige ist jetzt Besitztum des Künstlers geworden. Er selbst hat sich in einen Jenseitigen verwandelt«, deutete Bekker. Auch auf diese Weise kann man dieses Spätwerk hören, welches Mahler als sein »Persönlichstes« bezeichnete und das wie eine offene Frage endet.