Ausflug nach Arkadien

Von Anne Gerber

Eine Insel im gleißenden Licht der griechischen Sonne. Ein Flecken Land, umgeben vom immerwährenden Kommen und Gehen der Wellen, darüber gewölbt das strahlende Blau eines ungetrübten Himmels. Die Insel trägt vielleicht den Namen Lesbos oder Ischia oder Sizilien (Trinakria). Kein Windhauch, nur die Hitze lässt die Luft tanzen und das Flirren verdichtet sich zu Gestalten: Götter, Tiere, Menschen, Mischwesen und Nymphen. Sie bevölkern Arkadien, jene paradiesähnliche Hirtenlandschaft, die Wunschvorstellungen und Fantasien von der griechischen Antike über Renaissance und Klassik bis zur Moderne des 20. Jahrhunderts genährt hat und bis in die Gegenwart in Fantasyfilme und Popkultur hineinwirkt. Diese Landschaft hat es nie gegeben. Ein Sehnsuchtsort kann nur so lange bestehen, so lang man ihm fern ist und er keiner Realitätsprobe ausgesetzt wird. So bemerkte der französische Literaturnobelpreisträger Anatole France in seinem philosophischen Roman »Jardins d’Épicures«: »Die Chloë des Romans ist niemals eine wirkliche Schäferin und ihr Daphnis nie ein wirklicher Hirtenknabe gewesen. Der subtile Grieche, der uns ihre Geschichte erzählt, kümmerte sich keineswegs um Ställe und Ziegenböcke. Nur eines wollte er geben: Poesie und Liebe. Und da er den Städtern eine zugleich sinnliche wie graziöse Liebe zeigen wollte, verlegte er diese Liebe in Gegenden, wo seine Leser nie hinkommen.«

Die Insel Ischia dürfte noch Mitte des 20. Jahrhunderts einiges Potenzial für einen solchen Sehnsuchtsort gehabt haben. In seiner Villa mit Blick auf den Golf von Neapel bei der mehrmonatigen Komposition seines Cellokonzertes waren es jedoch weniger die »mediterrane Atmosphäre« und die »Landschaft Italiens«, deren Reizen William Walton erlegen war. Vielmehr hörte er laut eigenem Bekunden die Saiten seiner fernen britischen Heimat klingen: »Eigentlich hat meine Abwesenheit von Großbritannien, wenn überhaupt, meine Musik eher britischer gemacht, als es der Fall gewesen wäre, wenn ich daheim geblieben wäre.« Und doch scheint am Beginn des Cellokonzertes jenes luzide Flirren zu erklingen, in dem die Traumgebilde des Faun, die Nymphen aus Daphnis’ Nachtvision schemenhaft schweben. Maurice Ravel hingegen bekannte unumwunden, in »Daphnis et Chloé« ein »Griechenland meiner Träume« komponieren zu wollen, das »ziemlich genau jenem Griechenland verwandt ist, wie es sich die französischen Künstler am Ende des 18. Jahrhunderts eingebildet und ausgemalt haben.«
Die griechische Tragödie, die von ihrer Überzeitlichkeit ebenso wenig eingebüßt hat, was die ungebrochene Aufführungspraxis, die Adaptionen und Neufassungen der Bühnenklassiker von Sophokles, Euripides und Aischylos beweisen (zuletzt etwa der am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg gefeierte »Anthropolis«-Zyklus in der Bearbeitung von Roland Schimmelpfennig), reagierte mit den finstersten Auswüchsen menschlichen und göttlichen Machtanspruchs und maßloser Brutalität auf die Kämpfe und Krisen ihrer Zeit. Dem Ringen um neue Formen des Gemeinwesens mussten zahllose blutige Opfer gebracht werden. Der bukolischen Sphäre um Daphnis, Chloé und den Hirtengott Pan bzw. seiner italienischen Entsprechung Faun ist hingegen das Lichte, Helle vorbehalten.

Über Longos’ Roman »Daphnis und Chloé« aus dem 2. Jahrhundert nach Christus schwärmte etwa Goethe 1831 gegenüber Eckermann: »Es ist darin der hellste Tag, und man glaubt, lauter herkulanische Bilder zu sehen, so wie auch diese Gemälde auf das Buch zurückwirken und unserer Phantasie beim Lesen zu Hilfe kommen. Und keine Spur von trüben Tagen, von Nebel, Wolken und Feuchtigkeit, sondern immer der blaueste, reinste Himmel; die anmutigste Luft und ein beständig trockener Boden, so dass man sich überall nackend hinlegen möchte. Alles Widerwärtige, was von außen an die glücklichen Zustände des Gedichts störend hereintritt, wie Überfall, Raub und Krieg, ist immer auf das schnellste abgetan und hinterlässt kaum eine Spur.« Stéphane Mallarmé, dessen Gedicht »L’après-midi d’un faune« Claude Debussy zu seinem »Prélude« inspirierte, hob in einem Brief an den Komponisten ebenfalls das Lichtvolle seiner beschriebenen Szenerie hervor: »Ihre Illustrierung des ‚Après-midi d’un Faune‘ bildet keine Dissonanz zu meinem Text, sie übertrifft ihn wahrlich eher an Sehnsucht, und an Licht, mit ihrer Feinheit, ihrer Schwermut, ihrem Reichtum.«
Die Verlockungen einer solchen Welt liegen auch heute auf der Hand: Allgegenwärtige Naturkatastrophen, Artensterben, Klimaerwärmung, aber auch Krisen und Kriege sägen am Selbstverständnis des Menschen als Krone der Schöpfung. Das Wirken von KI in den meisten Lebensbereichen, Begleitroboter für Einsame und Kranke etc. machen in dystopischen Entwürfen dem Menschen schon sein Schöpfertum und seine Empathiefähigkeit streitig. Eine ursprüngliche Idylle, in der die Grenzen zwischen Natur und Kultur, Mensch und Tier ineinanderfließen, bietet sich als reizvoller Rückzugsort an.
Wenn im Kontext einer Ausstellung 2024 in Aachen vom »toxischen Arkadien« des 20. und 21. Jahrhunderts als Ort rückwärtsgewandten, »retrotopischen« Denkens die Rede ist, mag das für die Aspekte einer unpolitischen »heilen« Welt gelten. Die Vorstellung eines Arkadien als Tummelplatz für Tradwives und Alphamänner würde der kulturhistorischen Bedeutung des mythologischen Ortes jedoch nicht ansatzweise gerecht werden. Um Monogamie, tradierte Geschlechterrollen oder gar Keuschheit schert sich die Personage bereits in den antiken Erzählungen wenig. Dass zum Beispiel Pan sich in einer Version der Daphnis-Legende in den jungen Hirten verliebt und ihm das Flötenspiel beibringt, schien so natürlich, dass die Szene in mehrere Statuen gemeißelt wurde.

Leicht und spielerisch leben hier Götter, Menschen, Tiere im Einklang, ihr Dasein ist eng miteinander verwoben. Die Götter der Antike unterscheiden sich wesentlich von dem strafenden oder liebenden, jedenfalls aber über menschlichen Niederungen schwebenden Gott der monotheistischen Weltreligionen. »Die griechischen Götter sind in der Vollendung, wie sie im Homer bereits uns entgegentreten, gewiss nicht als Geburten der Not und des Bedürfnisses zu begreifen: solche Wesen ersann gewiss nicht das angsterschütterte Gemüt: nicht um sich vom Leben abzuwenden, projizierte eine geniale Phantasie ihre Bilder in das Blaue. Aus ihnen spricht eine Religion des Lebens, nicht der Pflicht oder der Askese oder der Geistigkeit. Alle diese Gestalten atmen den Triumph des Daseins, ein üppiges Lebensgefühl begleitet ihren Kultus. Sie fordern nicht: in ihnen ist das Vorhandene vergöttlicht, gleichviel ob es gut oder böse ist. Der Grieche kannte die Schrecken und die Entsetzlichkeiten des Daseins, aber er verhüllte sie, um leben zu können. Eine Theodizee war darum niemals ein hellenisches Problem: man hütete sich, die Existenz der Welt und somit die Verantwortlichkeit für deren Beschaffenheit den Göttern zuzumuten«, schrieb Friedrich Nietzsche. Nie waren Götter menschlicher. Die Selbstermächtigung des Menschen, die aus diesem Götterbild spricht, fügt sich wiederum in das Selbstverständnis des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts mit all ihren wissenschaftlichen Entdeckungen, technischen Möglichkeiten und gesellschaftlichen Neuerungen.
Auch die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Topos Arkadien schwelgte nicht im biederen Eskapismus, sondern erzeugte einige der bedeutendsten Marksteine und Neuerungen in Musik und Tanz um die Jahrhundertwende. »Nach der Flöte des Faun atmet die europäische Musik anders«, bekundete etwa Pierre Boulez über »Prélude à l'après-midi d'un faune«. Das Werk verhalf Debussy zu seinem internationalen Durchbruch als Komponist und wird heute als Beginn der musikalischen Moderne betrachtet. Zwei Jahrzehnte später revolutionierten die Ballets Russes die Tanzwelt Europas. Unter der Leitung von Impresario Serge Diaghilew tourte die Compagnie zwischen St. Petersburg und Paris, und versammelte dabei Größen wie Vaslav Nijinsky, Tamara Karsavina, Michel Fokine, Léonide Massine, Jean Cocteau, Igor Strawinsky, Maurice Ravel und Pablo Picasso. Die Aufführungen der Truppe mit ihren neuartigen Bewegungen, Klängen und Bildern wurden frenetisch gefeiert und sorgten gleichzeitig für die größten Theaterskandale ihrer Zeit. Legendär ist die regelrechte Saalschlacht bei der Uraufführung von Nijinskys »Le Sacre du printemps«, deren Tumult sogar die nicht eben sanfte Musik Strawinskys übertönte, sodass der Choreograf von der Seitenbühne laut für die Tänzer die Zahlreihen einzählte. Bereits zwei Jahre vor dieser Aufführung hatte der Ausnahmetänzer und Choreograf Vaslav Nijinsky mit »Nachmittag eines Faunes« ein ikonisch gewordenes Werk des modernen Tanzes geschaffen. Zu Debussys Komposition gestaltete er einen Gestus, der das genaue Gegenteil der klassischen Tanzästhetik mit ihrem Streben nach Transzendenz und dem Ablegen alles Animalischen war: bodengebundenes, ganzfüßiges Gehen, Laufen, Drehen, Beugen anstelle eleganter, luftiger Bewegungen in die Höhe. Schließlich Nijinskys berühmtes Solo im Profil wie ein verlebendigtes Basrelief: »Ein Tier des Waldes, halb scheu, halb begierig«, äußerte Hugo von Hofmannsthal nach einer Aufführung.

Nur wenige Wochen darauf lieferte der Choreograf Michel Fokine mit »Daphnis et Chloé« seinen Beitrag zur damaligen Reformbewegung auf dem Gebiet des Tanzes. Die Abbildung von Daphnis und Chloe auf einem Einband des Longos-Romans hatten ihn zu einem damals völlig neuen Verständnis für die Bühnendarstellung inspiriert: »Der Tanz soll das ›ein für allemal‹ festgelegte gestische und mimische Repertoire des konventionellen Balletts ablegen und stattdessen das Werk im Stil seiner historischen Epoche zeigen.« Für Fokine bedeutete diese »Authentizität« tunika-artige Kurzkleider statt Tutus, Sandalen oder barfüßiger Tanz anstelle der Ballett- und Spitzenschuhe, keine Nummernkomposition mit Applausunterbrechungen, um den Fortgang der Handlung nicht zu stören, und den Verzicht auf die damals üblichen Tänze Walzer, Polka und Galopp. Der damals noch junge, unbekannte Ravel folgte Fokines Ideen gern. »Daphnis et Chloé« war ein weiterer Schritt auf seinem Weg in die Reihe der großen modernen Komponisten Frankreichs. Zu seinen ästhetischen Grundsätzen äußerte er später mit Berufung auf Mozart, »dass es nichts gebe, was die Musik nicht versuchen, wagen oder darstellen könne, vorausgesetzt, sie höre nicht auf zu bezaubern und bleibe stets Musik.« Dies gelang ihm fraglos bereits mit seinem Werk für die Ballets Russes. Hans Heinrich Stuckenschmidt meinte dazu: »Noch wo dieses Ravel-Orchester dunkle und leise Farben beschwört, fühlt man sich in einer Landschaft, zu der helle Sonne gehört.«

Arkadien. Die Luft flirrt in der Hitze, die Schemen lösen sich auf wie eine Traumvision. Der »panische Wahnsinn des Mittags« (Roberto Calasso) legt sich mit den letzten Tönen der Flöte, die der Hirtengott Pan einst aus dem Schilfrohr band, in das sich die Nymphe Syrinx verwandelte, um ihm zu entfliehen. »Diese Dinge sind nie geschehen«, schrieb der spätantike Philosoph Salustios, »aber sie sind immer.«